Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]
nicht ernstlich umtut, erfährt nichts. Ohne Maske geht in Deutschland niemand mehr aus. Man betont krampfhaft lärmend, wie gut es einem geht, und nur, nachdem man sich vorsichtig umgeschaut hat, wagt man, einander flüsternd mitzuteilen, was wirklich ist. In einer großen Stadt weiß der Nachbar nichts vom Nachbarn, man ist gewohnt, aus der Zeitung zu erfahren, was sich in der Etage nebenan zuträgt. Aber unangenehme Dinge dürfen die Zeitungen nicht bringen. In einem Reich von fünfundsechzig Millionen Einwohnern kann man mühelos dreitausend Menschen totschlagen, dreißigtausend zu Krüppeln mißhandeln, hunderttausend einsperren, ohne Urteil, grundlos, und doch kann der äußere Aspekt von Ruhe und Ordnung gewahrt bleiben. Wenn nur eben verhindert wird, daß Rundfunk und Zeitungen darüber berichten.
Gustav bat Frischlin, ihn allein nach Hause gehen zu lassen. Es war eine helle Nacht, es war spät, die Straßen waren leer, weithin in den Bogengängen hallte sein steifer, fester Sehritt. Er ging schnell wie immer. Aber er fühlte sich behindert. Dieser Frischlin hatte etwas in ihn eingesenkt, was ihm neu war, sehr ungewohnt, beschwerlich.
Am andern Tag fuhr Frischlin zurück. Gustav stand auf dem Bahnsteig. Eigentlich war er froh, daß nun der unbequeme Mann fortging. Aber als der Zug fuhr, war ihm, als trennten ihn die Schienen nicht von dem Manne, sondern als seien sie Fäden zwischen ihm und dem andern, sich abspulende, die, so weit sie auch laufen, nicht abreißen. Und es schien ihm das Alleinsein jetzt fast schlimmer als Frischlins Gesellschaft.
Edgar fuhr in die Städtische Klinik wie immer. Gina hat ihn beschworen, er solle heute nicht hinfahren; auch Ruth, gegen seine Erwartung, hat ihm dringend abgeraten. Denn die Völkischen haben angeordnet, daß an diesem Sonnabend unter Aufwendung aller Propagandamittel gegen die fünfhunderttausend Juden des Reichs ein Boykott durchzuführen sei. Die Völkischen erklärten, sie müßten die durch Tausende von Dokumenten erhärtete Behauptung, sie hätten gegen die Juden üble Gewalttaten begangen, dadurch Lügen strafen, daß sie die Juden wirtschaftlich vernichteten. Viele Juden halten sich an diesem Tag in ihren Häusern, viele auch haben das Reich verlassen. Es ist vielleicht unvernünftig, aber Edgar Oppermann kann nicht anders: er fährt in seine Klinik.
Äußere Gründe hat er keine. Seine Tätigkeit in Deutschland ist aus. Er könnte heute von Berlin fortgehen, wenn er wollte. Er hat ehrenvolle Anträge nach London, nach Paris; die meisten medizinischen Institute der zivilisierten Welt interessieren sich für den Schöpfer des Oppermannschen Verfahrens. Einen dieser Anträge wird er annehmen. Was er hier aufgebaut hat, wird freilich zu einem großen Teil verloren sein; denn natürlich geht auch der kleine Dr. Jacoby fort,dem er sein Labor noch am ehesten hätte anvertrauen können. Er geht wirklich nach Palästina, wie es sich Edgar einmal in einer ironischen Laune vorgestellt hat, auf dem gleichen Schiff wie Ruth fährt er hinüber. Ja, Edgar wird in London, in Paris oder in Mailand neu anfangen müssen, es wird fünf bis zehn Jahre dauern, bis er da stehen wird, wo er schon einmal war. Man wird die Mittel zur Verfügung stellen, aber diese Mittel werden nicht reichen, die ganzen Widerlichkeiten des Betriebs, die er hier für den Aufbau seines Instituts hat durchkämpfen müssen, werden von neuem, vervielfältigt, beginnen, und er ist kein junger Mann mehr.
Leicht ist es nicht, seine Station hier zurückzulassen, sein Labor, seine Operationsräume, Jacoby, Reimers, Schwester Helene, den alten Lorenz. Er kann sich nicht vorstellen, wie das werden soll, fern von seinem Deutschland. Es ist ihm nicht nur um sein Institut, es ist auch sein Alltag, sein Haus; es wird eine Ewigkeit dauern, bis sich das neu eingespielt hat, Gina nimmt die kleinen Dinge so verdammt ernst. Auch auf Ruth muß er verzichten; er kann es ihr nicht verdenken, daß sie nach Palästina geht.
Die Stadt sieht freiertäglich aus. Man drängt sich auf den Straßen, um den Boykott zu besichtigen. Er passiert zahllose Schilder: »Jude«, »Kauft nicht bei Juden«, »Juda verrecke«. Völkische Landsknechte stehen herum, mit gegrätschten Beinen, in hohen Stiefeln, sie reißen ihre törichten, jungen Münder weit auf, plärren im Sprechchor: »Eh nicht der letzte Jud ist tot, / Gibt’s keine Arbeit und kein Brot.« Vielleicht haben Gina und Ruth wirklich recht gehabt, und es war
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