Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]
nicht sagen, Herr«, schnarrte der Mensch, »daß Sie hier schlecht behandelt worden seien?« – »Wollen?« fragteMartin zurück. »Schön«, sagte er, »ich werde es nicht sagen«. Er unterschrieb. »Dann wäre noch das da«, sagte der Mensch. Es war eine Anordnung, zwei Mark zu bezahlen, eine Mark für Unterkunft, eine Mark für Verpflegung und Behandlung. Die Musik ist frei, dachte Martin. Er bezahlte, bekam eine Quittung. »Guten Morgen«, sagte er. »Heil Hitler«, sagte der Zweigesternte.
Martin, wie er hinaus ins Freie trat, fühlte sich plötzlich hundeelend. Es regnete, die Straße war leer, es war lange vor dem Morgen. Es sind noch nicht vierundzwanzig Stunden, daß sie ihn geholt haben. Wenn er nur nach Hause kommt. Die Beine sind ihm so weich, sie sacken unter einem weg. Ein Königreich für eine Taxe. Da ist ein Schupo. Der Schupo schaut ihn scharf an. Vielleicht hält er ihn für betrunken, vielleicht auch sieht er ihm an, daß er aus dem Landsknechtsquartier kommt. Die Staatspolizisten hassen die völkischen Landsknechte, sie nennen sie die »Braune Pest«, ekeln sich vor ihnen. Jedenfalls hält der Schupo still und fragt Martin freundlich: »Was haben Sie, Herr? Ist Ihnen nicht wohl?« – »Vielleicht könnten Sie mir eine Taxe besorgen, Herr Wachtmeister«, sagt Martin. »Mir ist wahrhaftig soso.« – »Gemacht, Herr«, sagt der Schupo.
Martin setzt sich auf den Treppenvorsprung eines Hauses. Er hält die Augen geschlossen. Die Schulter, wo er den Hieb bekommen hat, schmerzt ihn jetzt ernstlich. Es ist ein sonderbarer Anblick, den Chef des Möbelhauses Oppermann so auf der Straße hocken zu sehen, ziemlich zerbeult, heruntergekommen. Aber er steht nicht mehr, er sitzt, er kann die Augen geschlossen halten; eigentlich, so übel ihm ist, fühlt er sich wohl. Und wie gut tut der leichte Regen. Die Taxe kommt, der Schupo hilft ihm hinein, er kann noch die Adresse angeben. Dann sitzt er in der Taxe, schräg, mehr liegend, wie tot, schläft, schnarcht, gegen seine Gewohnheit, es ist ein Gemisch von Röcheln und Schnarchen.
Der Chauffeur, wie er an dem Haus in der Corneliusstraße ankommt, läutet. Liselotte selber öffnet, hinter ihr, halb angezogen,ist der Portier, verstört und erfreut, wie er Martin erblickt. Zusammen mit ihm hilft sie Martin hinauf. Im Wintergarten bringen sie ihn nicht weiter. Er sitzt da, in einem Sessel, hat die Augen wieder geschlossen, schläft, schnarcht.
Auch das Mädchen ist inzwischen wach geworden, sie kommt, sieht Martin, sagt irgendwas Erschrecktes, Erfreutes. Liselotte hat wirklich den ganzen Tag herumtelefoniert, wie Martin vermutet hatte. Sie ist eine tapfere Frau, aber in den letzten Wochen hat sie viel erlebt. Man hat schauerliche Dinge gehört über das, was die Völkischen mit ihren Gefangenen anstellen. Der Rechtsanwalt Josephi, als sie ihn zurückbrachten, war auf den Tod mißhandelt, die Nieren waren ihm abgetrennt; alle Ärzte erzählen von Gefangenen der Völkischen, die in sehr üblem Zustand zu ihnen gebracht wurden. Liselotte hat wüste Phantasien gehabt. Wie sie jetzt vor Martin steht, wie sie ihn sieht, schlafend, schnarchend, in seinem Sessel, in einem der nicht bequemen Oppermann-Sessel des Wintergartens, kann sie sich nicht halten. Sie schreit, trotzdem das Mädchen dabei ist, ihr helles Gesicht ist rot und ganz verwüstet, dicke Tränen laufen ihr darüber, sie heult hinaus, sie wirft sich über den schlafenden Mann, tastet ihn ab. Er wacht auf, blinzelt schlaftrunken, hat etwas wie ein Lächeln. »Liselotte«, sagt er. »Nu, nu, Liselotte, man nicht so heftig.« Dann hat er wieder die Augen zu, schnarcht, und sie bringt ihn zusammen mit dem Mädchen zu Bett.
Gustav fuhr auf einem der netten, kleinen Dampfer über den Luganer See. Er kam von dem Dörfchen Pietra, wo er ein Haus besichtigt hatte, es zu mieten oder zu kaufen. Sein Haus in Berlin hatten die Völkischen beschlagnahmt; es stand fest, daß er so bald nicht nach Berlin zurückkehren konnte.
Wenn er das Haus oben in Pietra mietet, wird er es vielleicht nicht allein bewohnen müssen. Vielleicht bleibt Johannes Cohen länger, vielleicht kann er ihn bereden, ein paar Monate mit ihm dort oben zu bleiben.
Ja, morgen wird Johannes Cohen hier in Lugano sein, sein Jugendfreund. Vor zwei Tagen hat Gustav das Telegramm bekommen. Er ist sehr erregt. Soll er sich vor dieser Begegnung fürchten, soll er sich darauf freuen? Sein ganzes Wesen ist aufgerührt. Kampftage wird es auf alle Fälle
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