Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]
Drittel der Bevölkerung sind ihre Gegner. Man sucht nach einem modus vivendi. Die sonderbarsten Beziehungen, menschliche, geschäftliche, laufen in dieser Zeit der Neuordnung zwischen den Völkischen und ihren Feinden. Hunderttausende steigen hoch, Hunderttausende fallen, sichtbarlich. »Wir steigen, fallen, werden hin und her geweht. / Wir sind wie Eimer, am Rad des Brunnens, / Das Schicksal füllt den einen, leert den andern, / Zieht hoch, senkt, kettet Feindliches zusammen, / Sich Streitendes, launisch, ein spielendes Kind.« Ja, die Aufsteigenden und die Sinkenden waren miteinander verknüpft, und sie spürten es. Überall boten die Verfolger den Verfolgten an, ihnen Stellungen oder Vermögen zu retten, sofern sie sie nur daran teilnehmen ließen, und die ganze völkische Revolution, sah man genauer hin, zerfiel in Millionen kleiner Geschäfte auf Gegenseitigkeit.
Gustav, an diesem schönen Nachmittag, abgeklärt, voll freudiger Spannung auf die Ankunft seines Freundes, bedachte nachsichtig die merkwürdigen Anekdoten, die man ihm erzählt hatte.
Der Maler Holsten war ein Künstler zweiten Ranges gewesen, gutmütig, großspurig, war heruntergekommen. Aber in den Zeiten seines Glanzes hatte er seinen Kammerdiener generös und freundschaftlich behandelt, und dieser Mannwar jetzt Kammerdiener eines völkischen Ministers. Der Kammerdiener hatte savoir-vivre, wußte sich zu revanchieren, und der Maler bestimmte heute, wer das Präsidium der maßgebenden Künstlerverbände übernehmen, wer Staatsaufträge erhalten sollte.
Ein völkischer Anwalt, ein Hauptschreier in dem Kampf um die Vertreibung der Juden aus der Justiz, verhalf einem jüdischen Anwalt zur Flucht über die Grenze. »Ich rechne damit, Kollege«, sagte er zum Abschied, »daß Sie mir im Bedarfsfall den gleichen Dienst leisten.« Viele unter den neuen Herren suchten Rückendeckung bei den jetzt Verfolgten für den Fall des Zusammenbruchs.
Ein bißchen unbehaglich dachte Gustav an seinen Freund Friedrich Wilhelm Gutwetter. Er hat einen Essay von ihm gelesen, der in großen, feierlichen Worten den »Neuen Menschen« verkündete und der in den Kreisen der Völkischen bejubelt, in den Kreisen der Gegner bedauert, angegriffen, verlacht wurde. Gustav, überzeugt von der unbedingten Ehrlichkeit seines Freundes, wäre froh, wenn der Aufsatz nicht geschrieben worden wäre. Gestern hat er einen Brief von Gutwetter bekommen. Gutwetter, da Gustavs Reise sich länger hinziehe, bat ihn um die Erlaubnis, die Bibliothek in der Max-Reger-Straße auch in seiner Abwesenheit benützen und dort arbeiten zu dürfen.
Während Gustav diese Dinge überdachte, abwägend, nachsichtig, kam ein junger Herr vorbei, anfangs der Dreißiger, breit von Wuchs, knöchernes, viereckiges Gesicht. Gustav kannte ihn, es war ein gewisser Dr. Bilfinger, ein junger, reicher Herr aus dem Süddeutschen. Gustav hat ihn schon gestern und vorgestern wahrgenommen. Der junge Mensch war auffällig, wie er in seinem hechtgrauen Frühjahrsüberzieher herumging, immer allein, sehr korrekt angezogen, steifer Kragen, immer den Hut in der Hand, mit sich selber beschäftigt, die Augen eng vor sich hin gerichtet. Er zögerte, als er Gustav sah, trat schließlich heran, fragte, ob er sich zu ihm setzen dürfe. Er hatte offenbar etwas auf dem Herzen.Gustav, in seiner frischen, gefälligen Art, ermutigte den schwerfälligen Herrn. Ja, sagte der schließlich, er habe allerhand zu erzählen, und gerade zu Gustav möchte er sprechen. Er habe durch seinen Freund Frischlin einiges über Gustav gehört, Gustav sei eigentlich ein Beteiligter, und er möchte sich in einem gewissen Sinn bei ihm entschuldigen. Gustav war betroffen durch die Erwähnung Frischlins. An sich war das nicht weiter merkwürdig; er erinnerte sich jetzt auch, von Frischlin manchmal den Namen Bilfinger gehört zu haben. Aber es schien ihm, als habe er in letzter Zeit, fast absichtlich, Frischlin vergessen, er dachte an die Schienen des Bahnhofs von Bern, die wie Fäden gewesen waren, und dieser junge Bilfinger schien ihm ein Sendbote Frischlins. Er schaute ihn an. Dr. Bilfinger saß da in seinem hechtgrauen Überzieher, korrekt, das viereckige Gesicht mit dem kurzen, hochgebürsteten Haar schien vertrauenswürdig, besessen von einer Idee. »Bitte, sprechen Sie, Dr. Bilfinger«, forderte Gustav ihn auf. Aber Bilfinger antwortete, er habe böse Erfahrungen gemacht, er möchte nur an einem Ort berichten, wo man vor Spionen sicher sei. Er schlug ihm
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