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Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Titel: Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lion Feucht Wanger
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vor, nach dem Essen irgendwo mit ihm hinauszufahren. Im Freien könne man ungestört erzählen und hören.
    Des Nachmittags dann saßen sie auf einer kleinen Rasenböschung am Seeufer, in der Sonne, und Dr. Bilfinger erzählte. Er war im Schwäbischen gewesen, auf einem Gut, das er einmal erben soll, in der Nähe von Künzlingen, bei seinem Onkel, dem Senatspräsidenten von Daffner. Am 25. März nun war er nach dem Orte Künzlingen gefahren, um Geld von der Bank zu beheben. Er hatte mit angesehen, wie völkische Truppen unter Führung des Standartenführers Klein aus Heilbronn den Ort besetzten, die Synagoge umstellten, den Gottesdienst – es war ein Samstag – unterbrachen. Sie trieben die Männer aus der Synagoge und schlossen die Frauen dort ein, ohne ihnen zu sagen, was weiter mit den Männern geschehen würde. Die Männer brachten sie aufs Rathaus und untersuchten sie »auf Waffen«. Warum die Männer zum samstäglichenGottesdienst in die Synagoge Waffen mitgenommen haben sollten, blieb unerfindlich. Wie immer, es wurde jeder einzelne mit Stahlruten und Gummiknüppeln geschlagen, so daß die meisten, als sie das Rathaus verließen, erbärmlich ausschauten. Ein Siebzigjähriger, ein gewisser Berg, starb am gleichen Tag; am Herzschlag, erklärte man später. Der Bürgermeister riet den Juden, die zumeist sehr beliebt waren, sie möchten Künzlingen sogleich verlassen, er könne für ihre Sicherheit nicht einstehen. Aber nur wenige konnten seinen Rat befolgen, die meisten mußten das Bett hüten.
    Ihn, Bilfinger, habe das Geschehene aufgerührt, und er sei, begleitet von seinem Onkel, dem genannten Herrn von Daffner, in die Landeshauptstadt Stuttgart gefahren und dort bei dem stellvertretenden Polizeiminister vorstellig geworden. Der, ein gewisser Dr. Dill, rief sogleich den Bürgermeister von Künzlingen an. Der Bürgermeister, sich windend, gab bald die Vorgänge zu, bald bestritt er sie. Die Völkischen nämlich hatten gedroht, jeder, der etwas von den Mißhandlungen laut werden lasse, werde daran glauben müssen. Der Minister, um Klarheit zu schaffen, schickte, unter Führung der Polizeiräte Weizenäcker und Geißler, die Stuttgarter Mordkommission nach Künzlingen. Diese Kommission stellte fest, daß Bilfingers Bericht hinter der Wahrheit weit zurückblieb. Aber die Untersuchung hatte die einzige Folge, daß einer der Völkischen auf vier Tage in Untersuchungshaft gehalten und der Standartenführer Klein aus Heilbronn strafweise zu einer anderen Standarte versetzt wurde. In der führenden Stuttgarter Zeitung lautete der Bericht über die Vorgänge folgendermaßen: »In der Nähe von Mergentheim wurden ein Anzahl Einwohner auf Waffen untersucht. Bei der Durchsuchung sollen einige nicht gutzuheißende Mißhandlungen vorgekommen sein, weshalb einer der Untersucher festgenommen wurde.«
    Er sei Jurist, fuhr Bilfinger fort, gelernter, passionierter Jurist, und ihn habe es gekratzt, daß Handlungen, die so offensichtlich gegen klare Paragraphen des Reichsstrafgesetzbuchesverstoßen, nicht bestraft werden sollten. Er habe sich weiter umgeschaut in der Gegend zwischen Mergentheim, Rothenburg und Crailsheim. Authentisches Material zusammenzukriegen sei nicht leicht; denn die Mißhandelten seien arg verschüchtert, einige verschreckt bis an den Rand des Irrsinns. Man habe sie bedroht, auch ihre Frauen und Kinder: wenn sie nur einen Muckser täten, werde man sich zu rächen wissen. Jetzt ließen einen die Leute nicht heran, weigerten sich mit verstörten Gesichtern, irgend etwas auszusagen. Trotzdem habe er Verwundete zu sehen bekommen, auch vernehmen können, er habe glaubwürdige Augenzeugen gesprochen, Beamte der Staatspolizei, Ärzte der Mißhandelten, habe Photos gesehen. Soviel stehe fest: es haben in dieser Gegend Störungen der öffentlichen Ordnung stattgefunden, organisierte Pogrome, der Tatbestand des Landesfriedensbruchs ist zweifelsfrei gegeben.
    In dem Flecken Bünzelsee zum Beispiel mußten dreizehn jüdische Männer in Prozession durch die Straßen ziehen, unter Schlägen, der vorderste eine Fahne in der Hand, rufen: »Wir haben gelogen, wir haben betrogen, wir haben unser Vaterland verraten.« Es wurden den Männern Bart- und Kopfhaare ausgerissen, sie wurden übel mit Stahlruten und Gummiknüppeln geschlagen. In dem Orte Reidelsheim schlugen die Völkischen neben anderen Juden einen Lehrer, von dem sie mit den Worten »Isidor, wo ist deine Liste?« ein Verzeichnis der von den Juden zu boykottierenden

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