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Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Titel: Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lion Feucht Wanger
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geben.
    Man kann sich mit diesem Burschen Johannes nicht vertragen, aber man kommt auch nicht los von ihm. Jahrelang, jahrzehntelang hat Gustav sich mit ihm herumgestritten; hundertmal hat er sich gesagt: nun aber endgültig Schluß. Aber er hat niemals Schluß gemacht. Dieser Johannes Cohen ist ein Mensch, der einen reizt, daß man rot sieht, der einen umwirft, zu neuen Gedanken zwingt; aber wer ihn einmal richtig begriffen hat, muß immer wieder zu ihm zurück.
    Vierzehn Monate jetzt hat Johannes nichts von sich hören lassen. Nicht einmal zu seinem fünfzigsten Geburtstag hat er ihm gratuliert. Dabei ist, was Gustav getan hat, auch für den Empfindlichsten kein Anlaß zum Bruch. Gustav hat ihm im vorigen Winter, als gerade die Studentenkrawalle besonders stürmisch waren, in einem eindringlichen Brief geraten, er solle doch nun endlich seine Leipziger Professur hinschmeißen. Hat Johannes nicht erreicht, was er gewollt hat? Nach dem Welterfolg seines Buches »Von der List der Idee oder Hat die Weltgeschichte Sinn?«, nachdem so viele ausländische Universitäten sich um ihn bewarben, hat ihm ja der widerstrebende Senat endlich den ordentlichen Lehrstuhl für Philosophie angeboten. Konnte er sich damit nicht begnügen? Die Leipziger Studenten wollten ihn eben einfach nicht. Gab es nicht jeden zweiten Tag Tumulte? Konnte er nicht von den Einnahmen aus seinen Büchern besser und friedlicher leben? Mußte er, dem der sächsische Dialekt so verhaßt ist, ausgerechnet in dieser schwierigen Situation in Leipzig bleiben, inmitten von Studenten, die ihn anpöbeln, noch dazu auf sächsisch? Hatte er es nötig, vor einem Katheder zu sitzen und darauf zu warten, daß die Polizei ihm die Möglichkeit verschaffe, seinen Vortrag zu beginnen? Warum mußte er Studenten belehren, die durchaus nicht belehrt sein wollten?Diejenigen, die es wert sind, konnte er doch auch durch Bücher erreichen.
    Das also hat Gustav seinem Freunde Johannes Cohen geschrieben, vor vierzehn Monaten. Aber dieser Johannes hat nicht geantwortet. Hat seitdem überhaupt nichts mehr von sich hören lassen. Gustav hat es sich nicht eingestehen wollen, aber das Schweigen des Freundes hat ihn das ganze Jahr über bitter gekränkt. Johannes selber nahm sich von jeher das Recht, an jedem andern höhnisch, bösartig herumzumäkeln. Wie oft, als sie gemeinsam studierten, hat er ihn angepumpt und ihn im gleichen Atem aufs gröblichste verlacht. Versuchte man aber, ihm einen Rat zu geben, behutsam, freundschaftlich, dann schlug er bösartig zurück, oder, noch schlimmer, schwieg hochmütig, mehr als ein Jahr lang. Jetzt also hat es sich erwiesen, daß Gustav recht gehabt hat damals mit seinem Brief; sie haben Johannes mit Hohn davongejagt. Aber das ist, weiß Gott, keine Genugtuung für Gustav. Gewiß, die Verbissenheit, mit der sein Freund auf seinem Platz ausharrte, hat ihn scheußlich geärgert, aber im Grund hat er Respekt gehabt vor dieser Verbissenheit, so unvernünftig sie war, hat Johannes darum beneidet. Ja, wenn er ganz ehrlich sein will, war diese Zähigkeit ein stiller, ständiger Vorwurf für ihn.
    Er hat groß aufgeatmet, wie er vor ein paar Tagen den Brief des Johannes bekommen hat. Daß er jetzt, da er einen Freund brauchte, sich an ihn wandte, machte ihn stolz. Sofort hat er ihm depeschiert, er möge kommen. Morgen also wird Johannes da sein. Gustav lief auf dem Verdeck des kleinen Dampfers hin und her, mit seinem steifen, schnellen Schritt, mit ganzer Sohle auftretend. Das gelbbraune, scharfnasige, gescheite, hochmütige, lebendige Gesicht des Freundes stand verlockend vor ihm. Er sehnte sich freudig nach dieser geistigen Massage.
    Der Frühling am Luganer See war heuer schöner als seit vielen Jahren; es war sehr warm, ein wildes, sanftes Blühen war ringsum. Es wäre fein, wenn er Johannes dahin kriegenkönnte, ein paar Monate mit ihm da oben zu hausen. Die erzwungene Entfernung von Berlin erscheint Gustav plötzlich fast als ein Geschenk. Es ist ein Geschenk, wenn ein Mann von fünfzig Jahren Aussicht hat, sich nochmals von Grund auf umzukrempeln. Mit Hilfe des Johannes kann ihm das glücken.
    Der Dampfer legte an. Gustav ging die Strandpromenade entlang. Mußte viele Grüße erwidern. Er wollte allein sein. Ging bis zum äußersten Ende der Promenade, setzte sich dort auf eine Bank.
    Sehr viele haben Deutschland verlassen, aber sehr viel mehr sind geblieben. Die Völkischen können nicht alle ihre Gegner totschlagen oder einsperren; denn zwei

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