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Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Titel: Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lion Feucht Wanger
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Firmen verlangten, das es nicht gab. Der Lehrer wurde dermaßen mißhandelt, daß ein Verwandter, namens Binswanger, der ihn am späteren Abend besuchte, beim Anblick seiner Wunden einen Herzschlag erlitt. Der behandelnde christliche Arzt, ein Dr. Staupp, bat den Daniederliegenden, ihn von der ärztlichen Schweigepflicht zu entbinden; er wolle in diesem Deutschland nicht länger leben, sondern fortgehen und aussagen, was er gesehen habe.
    In Weißach wurden die neun angesehensten jüdischen Männer im Rathaus, das Gesicht zur Wand, an die Mauer gestellt.Sie wurden »vernommen«. Wandte einer beim Antwortgeben mechanisch den Kopf von der Wand weg dem Fragenden zu, dann wurde er geohrfeigt. Es waren unter den so »Verhörten« zwei, die den Krieg als Frontoffiziere mitgemacht hatten, einer von ihnen hatte seine Hand verloren. Viele aus der christlichen Bevölkerung gaben ihrem Schmerz und ihrer Empörung über diese Vorgänge laut Ausdruck.
    In Oberstetten lag eine alte jüdische Frau im Sterben. Die Völkischen führten ihre beiden Söhne vom Sterbebett weg und durchsuchten das Haus »nach Waffen«. Der anwesende Beamte der Staatspolizei erklärte, er schaue sich das nicht mehr länger mit an. Die Frau starb, ohne ihre Nächsten bei sich zu haben, der Beamte verlor seine Stellung.
    Da die württembergischen Behörden, erzählte Bilfinger weiter, abgesehen von der viertägigen Untersuchungshaft des einen Landsknechts, offenbar nicht daran dachten, die Pogrome zu ahnden, seien er und sein Onkel, der Senatspräsident, nach Berlin gefahren, um bei den Maßgebenden des neuen Reichs zu protestieren. Aber man habe überall nur Achseln gezuckt: Eine Revolution sei kein Fünf-Uhr-Tee, und als sie bestanden hätten, sei man unangenehm geworden. Man sehe es durchaus nicht gern, wenn Privatpersonen sich mit Dingen der Justiz abgäben. Ein Referendar sei zu zehn Monaten Gefängnis verurteilt worden, nur weil er Listen derjenigen angefertigt hatte, die nach den amtlichen Meldungen bei politischen Zusammenstößen erschlagen worden waren. Zuletzt habe ein Wohlwollender sie gewarnt, sie sollten schleunigst über die Grenze verschwinden; sie liefen sonst Gefahr, in Schutzhaft genommen zu werden. Schutzhaft sei eine administrative Maßnahme. Sie werde verfügt, sowohl um die Öffentlichkeit vor dem Häftling, wie um den Häftling vor der Öffentlichkeit zu schützen; »ihn vor dem gerechten Zorn des Volkes zu bewahren«, heißt das in der Ausdrucksweise der neuen Obrigkeit. Es stehe im Belieben der Landsknechtsführer und der Geheimpolizei, diese Schutzhaft zu verhängen. Man werde keinem Richter vorgeführt,die Gründe würden einem nicht mitgeteilt, es gebe keine Beschwerde, keine Befristung, kein Anwalt werde zugelassen. Vollzogen werde die Schutzhaft in den Konzentrationslagern. Diese hätten als Besserungsanstalten etwa im Sinne des Paragraphen 362 des Reichsstrafgesetzbuches zu gelten. Die Konzentrationslager seien Hoheitsbereich der Landsknechtsarmee, und diese verbitte sich die Einmischung jeder anderen Behörde. Die Landsknechte rekrutierten sich zumeist aus sehr jugendlichen Arbeitslosen. Diese also hätten den Insassen, Professoren, Schriftstellern, Richtern, Ministern, Parteiführern, »die für den Geist der neuen Zeit erforderlichen Eigenschaften« anzuerziehen.
    Dies erzählte Dr. Bilfinger, auf einer rasigen Erhöhung am Ufer des Luganer Sees sitzend. Er berichtete in trockenen, beamtenhaften Wendungen, umständlich, er war kein guter Erzähler. Sein schwäbisch behaglicher Tonfall stand in seltsamem Gegensatz zu dem Erzählten. Er saß da in seinem hechtgrauen Überzieher, still, er ließ keine Einzelheit aus, sein Bericht dauerte fast eine Stunde. Gustav hörte zu. Er saß etwas unbequem, so daß ihm die Beine allmählich einschliefen, aber er veränderte ihre Haltung nur selten. Zu Anfang zwinkerte er manchmal nervös mit den Augen, aber dann wurde auch sein Blick unbewegt. Er unterbrach Bilfinger mit keinem Wort. Er hatte viel und Schlimmeres gehört, aber die juristisch sachliche Art dieses jungen Menschen machte ihm die Bilder von Schmutz und Blut körperhafter als die aller andern Berichte. Er hörte gut zu, leidenschaftlich. Er verschlang, was der andere sagte, nahm es ganz in sich auf, so daß es nicht nur Wissen wurde, sondern sogleich Gefühl, ein Teil seines Selbst.
    Bilfinger hatte langsam erzählt, gleichmäßig, ohne Pause. Bisher, sagte er, habe er immer nur über einzelne Fälle berichten können. Dies

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