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Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Titel: Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lion Feucht Wanger
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sei das erstemal, daß er im Zusammenhang berichte, ohne vorsichtig umschreibende Wendungen, sachlich, wie es einem ordentlichen Juristen zukommt. Gustav müsse ihn, bitte, verstehen, drängte er. Es seien nicht die einzelnen Verbrechen, die ihn so erregt hätten, sondern es seidie Tatsache, daß sie ungesühnt blieben. Er sei von Grund auf deutsch, er sei Mitglied des Stahlhelms, aber er sei auch von Grund auf Jurist. Daß es unter einem Volk von fünfundsechzig Millionen Menschen Gewalttätige gebe, geistig Arme, das sei begreiflich: aber daß die Un-»Gesittung« das Un-»Recht« des Urwaldmenschen als Sinn und Norm der Nation verkündet und in Reichsgesetzen festgelegt werde, dessen schäme er sich als Deutscher. Die kalten Pogrome gegen Arbeiter und Juden, der in der Gesetzgebung festgelegte anthropologische und zoologische Unsinn, der legalisierte Sadismus, das sei es, was ihn so errege. Er stamme nun einmal aus einer alten Juristenfamilie, und er sei der Meinung, ein Leben ohne Recht sei nicht lebenswert. Er könne nichts anfangen mit diesem deutschen Recht, das die neuen Machthaber an Stelle des römischen eingeführt haben und das auf dem Grundsatz basiere, Mensch sei nicht gleich Mensch, sondern der deutschvölkische Mensch sei von Geburt aus der Herr, somit allen andern überlegen und nach andern Rechtsgrundsätzen abzuurteilen als der nichtvölkische. Er könne beim besten Willen die Verfügungen der völkischen »Gesetzgeber« nicht als Gesetze anerkennen; denn diejenigen, die diese Gesetze erließen, seien zum Teil nach der Rechtsordnung sämtlicher weißer Völker als Verbrecher zu bestrafen, zum Teil seien sie nach den Gutachten maßgeblicher Ärzte in Irrenhäuser einzusperren. Ein Mann, der nach rechtsgültigem Urteil schwedischer Richter als nicht im Vollbesitz seiner normalen geistigen Kräfte nicht zum Vormund des eigenen Kindes tauge, tauge nicht zum Vormund von achtunddreißig Millionen Preußen. Deutschland habe aufgehört, ein Rechtsstaat zu sein. Ihn, Bilfinger, füllten diese Dinge ganz an. Er finde, die gute, deutsche Luft sei, grob herausgesagt, verstunken und verpestet durch das Geschehene und mehr noch dadurch, daß das Geschehene keine strafrechtlichen Folgen habe. Er könne in diesem Lande nicht mehr leben. Er habe alle seine Aussichten in Deutschland hingeschmissen und Deutschland verlassen. Er starrte vor sich hin durch seine große, goldgerahmteBrille, mit eckigem, verbittertem Gesicht. »Sie haben die Maßstäbe der zivilisierten Welt zerbrochen«, sagte er, verbissen, schwäbisch, wütend, hilflos.
    Gustav schwieg. »Sie haben die Maßstäbe der zivilisierten Welt zerbrochen«, war es noch in seinen Ohren, in dem schwäbischen Tonfall des jungen Menschen. »Sie haben die Maßstäbe der zivilisierten Welt zerbrochen.« Er sah einen Menschen mit einem gelben Zentimeterstab an einem kleinen Ding herummessen. Es mochte fünfzehn Zentimeter hoch sein, höchstens zwanzig. Der Mensch maß und maß nochmals, und dann zerbrach er den Zentimeterstab und schrieb an: »2 Meter.« Und dann kam ein anderer und schrieb an: »2,50 Meter.«
    Gustav schwieg mehr als eine Minute. »Warum haben Sie gerade mir das erzählt?« fragte er schließlich, seine Stimme klang unsicher, er mußte sich räuspern, um sie klarer zu bekommen. Bilfinger schaute ihn aus seinen engen Augen an, verlegen, geniert. »Es sind zwei Gründe«, sagte er, »warum ich glaubte, daß das Sie anginge. Einmal, weil Sie damals jenes Manifest unterzeichnet haben gegen die Barbarisierung des öffentlichen Lebens, und dann, weil mein Freund Klaus Frischlin einmal von Ihnen gesagt hat, Sie seien ein ›Betrachtender‹. Ich weiß sehr genau, was er damit meinte; ich halte viel von meinem Freunde Frischlin.« Er hatte sich leicht gerötet, er sprach geniert.
    Die Sonne war hinunter, es war kalt geworden. Gustav, immer noch mit mühsamer Stimme, sagte: »Ich danke Ihnen, Dr. Bilfinger, daß Sie zu mir gesprochen haben.« Dann, sehr rasch, fuhr er fort: »Es wird kalt. Wir müssen zurück.«
    Auf dem Rückweg sagte er: »Wir wollen jetzt nicht reden, Dr. Bilfinger. Es hat keinen Sinn, darüber zu reden.« Was sollte man auch sagen zu einem solchen Bericht, wenn man Deutschland liebte? Was heißt das: liebte? Irgendein alter Vers stieg in ihm hoch, hat er selber ihn gemacht oder ein anderer: »Und liebst du Deutschland? Frage ohne Sinn. / Kann ich das lieben, was ich selber bin?«
    Bilfinger sagte: »Ich habe es niedergeschrieben, mit

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