Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Titel: Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lion Feucht Wanger
Vom Netzwerk:
widerlich zu hören. Aber wer nimmt das ernst? Im Grunde geht das Leben weiter wie immer. In ihrem Betrieb zum Beispiel hat man einen neuen Betriebsrat gewählt, die Löhne der Arbeiter herabgesetzt. Der neue Betriebsrat hat zuerst versucht, sich aufzuspielen, hat verlangt, daß siebzehn Juden und Sozialisten entlassen würden. Aber jetzt hat man von den Entlassungen neun wieder eingestellt. Geheimrat Harprecht, ihr Chef, zieht sie zuweilen gutmütig auf »wegen ihres Juden«. Macht die äußeren Zeremonien des neuen Kultes mit, aber, mit ihr allein oder sonst mit Vertrauten, mokiert er sich darüber. Sie hat Zitate gelesen aus ausländischen Zeitungen über Greuel in Deutschland. Wenn sie diese Greuelnachrichten vergleichtmit dem, was sie mit diesen ihren Augen gesehen hat, dann beginnt sie zu zweifeln, ob von den Berichten über die Schrecken der französischen oder der russischen Revolution auch nur der zehnte Teil wahr sei.
    Sie saßen nun beide aufrecht, Gustav hockte mit gekreuzten Beinen, sie saß ihm auf einem Stein gegenüber. Sonst hatte sie das französische Lexikon immer ordentlich in den Schatten eines Steinblocks gelegt, jetzt lag es in der Sonne, und sein Deckel krümmte sich. Sie sprach langsam, bemüht, nicht zuviel zu sagen und nicht zuwenig. Ihre hellen Augen schauten ihn voll und gelassen an. Dies war Anna, seine Anna. Sie kam aus Deutschland, dem hermetisch abgeschlossenen, sie war eine von denen, die oben wohnten, sie wußte nicht, was unter ihren Füßen geschah. Sie glaubte an die »Ruhe und Ordnung«, sie verteidigte ihren Glauben.
    Er hörte sie aufmerksam an, ohne sie zu unterbrechen. Was sie sagte, hat er mehrmals gehört, es stand in allen deutschen Zeitungen. Auf diese Art schützte man sich in Deutschland, auch die Redlichen, Gutgesinnten, um nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren, die Heimat.
    Soll er sprechen? Hat es Sinn? Ist es nicht Leichtsinn, mehr als das, ruchlos, diese Frau aus ihrer guten, kraftvollen Ruhe herauszureißen? Er sieht Johannes Cohen, auf seiner Kiste, »Knie beugt, streckt«, er sieht aus wie der Hampelmann der Pantomime, mit seiner krächzenden Stimme, wie ein Papagei, ruft er: »Ich Judenschwein habe mein Vaterland verraten.« Dieses Mädchen Anna kann keine vier Wochen hier in dem südfranzösischen Hause leben, ohne Ordnung zu schaffen: soll sie weiterleben, ohne zu wissen, wie ihre Heimat verrottet und verfällt? Nein, er kann Anna nicht schonen.
    Er beginnt zu erzählen von dem, was Bilfinger ihm berichtet hat. Er spricht, und um seine Worte ist das leise Geräusch des Windes und des Meeres. Er spricht nicht so trocken und sachlich wie Bilfinger, sein Gefühl färbt seine Worte, er kann nicht ruhig sprechen, er verstärkt da und dort, übertreibt. Ja,sie möge zuhören, so geschah es in ihrem Württemberg, ganz in der Nähe ihres Stuttgart, während sie herumging und nichts sah als Ruhe und Ordnung.
    Während er spricht, weiß er, daß er schlecht spricht, viel zu erregt, nicht glaubwürdig. Er erzählt nicht, er plädiert. Was will er eigentlich? Was Bilfinger wollte, war klar. Er mußte erzählen, einem, den es anging, ihm, dem Juden. Was aber treibt ihn, Anna aufzurütteln? Er will doch nichts von ihr. Er will doch gar nicht, daß sie etwas tue. Doch, er will etwas von ihr. Eine Bestätigung. Die Bestätigung, daß sein Gefühl recht ist. Ist das nicht selbstisch von ihm? Nein. Sie haben die Maßstäbe zerbrochen, und es ist uns aufgetragen, und er muß diese Bestätigung haben. Es gibt nicht viele, mit denen er reden kann. Mit Johannes Cohen hätte er reden können. Aber Johannes Cohen ist in Herrenstein. »Knie beugt, streckt.«
    Anna hört zu. Ihre hellen Augen werden dunkler. Sie ist empört. Nicht über das Gehörte, sondern darüber, daß jemand das glauben kann. Weil man Gustav sein Haus genommen hat, glaubt er, das ganze Land sei plötzlich zum Urwald, seine Menschen zu Buschnegern geworden. Das Meer ist lauter, sie spricht mit starker Stimme. Ihre Wangen sind rotgefleckt, um die Augen ist sie ganz weiß.
    Gustav ist nicht sehr berührt von ihrem Zorn. Er hat gewußt, es wird nicht leicht sein, Anna aus ihrem sichern Glauben herauszujagen. Sie kommt aus dem Land der Lüge. Seit Monaten haben die besten Techniker der Lüge mit den modernsten Mitteln Milliarden Lügen über das Land ausgestreut. Anna hat diese Lügenluft eingeatmet, Tag um Tag, Stunde um Stunde. Solche wie sie einzunebeln, ihnen zu verbergen, was ist, dafür arbeitet ja das

Weitere Kostenlose Bücher