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Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Titel: Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lion Feucht Wanger
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Lügenministerium, darin ja sieht diese Afterrevolution ihre wichtigste politische Sendung. Anna ist bis in alle Poren vollgesogen mit diesen Lügen. Anna zu entgiften erfordert Zeit, Zähigkeit.
    Gustav holt die Dokumente. Sie liegen auf dem Bauch, das Gesicht in die Hände gestützt, und er liest ihr vor, was Bilfingeraufgezeichnet hat. Gleichmäßig kommen die Wellen, die Papiere fliegen im Mistral, sie müssen sie mit Steinen beschweren. Gustav liest, reicht ihr die Anlagen, die eidesstattlichen Versicherungen, die Photos. Von seinen eigenen Dingen spricht er wenig, nichts von Johannes Cohen. Es soll auf sie langsam zukommen, wie es langsam in ihn eindrang.
    Wie er zu Ende ist, sagt sie nichts, schichtet die Dokumente sorgfältig zusammen, packt sie zurück in die feste Umhüllung. Sie ist nachdenklich, nicht gläubig. Auf dem kleinen, bröckeligen Pfad steigen sie hinauf zu ihrem Haus. Anna geht an ihre Arbeit. Später ruft sie ihn zum Abendessen. Vor ihnen ist das sandige Gelände, die Pinienschonung, das Meer. Es wird Nacht, es wird rasch kühl. Sie sprechen von tausend kleinen und großen Dingen; Anna ist vielleicht ein bißchen weniger fröhlich, doch gelassen wie stets.
    So bleibt es den Abend, so den nächsten Morgen. Sie machen ihren Dauerlauf, schwimmen, gehen spazieren. Anna liest ihr französisches Buch, wirtschaftet. Der Tag läuft, wie sie es vorbestimmt hat.
    Nur einmal sind die Dinge von gestern wieder da. Anna fragt, ob denn nun und wann Johannes Cohen komme; Gustav hat ihr geschrieben, er werde sie vielleicht auf drei bis vier Tage besuchen. Und jetzt spricht er ihr von seinem Freunde Johannes. Sagt ihr, daß er sie nicht besuchen werde und warum. Das trifft sie tiefer als Bilfingers Dokumente. »Und kann man ihm nicht helfen, kann man nichts für ihn tun?« fragt sie heftig nach einem betroffenen Schweigen. »Nein«, erwidert Gustav. »Die Landsknechte dulden nicht, daß einer ihnen da einredet. Mischt sich da ein Minister ein oder sonst ein Zivilist, dann kriegt das ihr Gefangener nur schlimmer zu spüren.« Er hatte die senkrechten Furchen in der Stirn, malmte ein wenig mit den Zähnen. Aber er versagte es sich, mehr von den Konzentrationslagern zu sprechen. Er merkte wohl, daß jetzt ihre Ruhe erschüttert war, aber er war klug geworden, er wartete ab, bis sie es genügend gewälzt haben wird hinter ihrer eckigen Stirn.
    Den Abend darauf war es soweit. Er lag bereits im Bett, lesend, als sie zu ihm kam. Sie setzte sich an sein Bett. Sagte, sie sei jetzt fertig mit der Einrichtung. Es sei so geworden, wie sie es sich gedacht habe. Aber sie habe keine rechte Freude mehr daran. Es seien üble Dinge, grauenvolle, von denen Gustav ihr gesprochen habe, und es sei nicht leicht, damit zu Rande zu kommen. Dennoch müsse sie das Ganze, ihr Deutschland, gegen ihn verteidigen. Im großen gesehen, sei dieser Umschwung notwendig gewesen und sicher dem Volk erwünscht. Die Machthaber von früher, das müsse er zugeben, hätten immer tausend Skrupel gehabt, Legalitätsskrupel vor allem. Statt ihre Gegner auf den Kopf zu hauen, hätten sie erst hundert juristische Gutachten eingeholt, ehe sie es wagten, sie zu ermahnen, sie möchten etwas weniger Hochverrat treiben. Wenn sie wirklich einmal einen politischen Mörder einsperrten, hätten sie ihn nach ein paar Wochen wieder freigelassen, und wenn sie einem Hochverräter die Pension strichen, hätten sie aus Legalitätsskrupeln diesen Beschluß nach vierzehn Tagen wieder rückgängig gemacht. Sie hätten nichts getan, sie hätten immer nur Watte gekaut, und darüber hätten sie die Republik vermorschen und verrotten lassen. Die neuen Machthaber seien schlau und einfältig, aber sie täten etwas. Das wünsche das Volk, das imponiere ihm. Auch der Führer, gerade in seiner schlauen, von keiner Kritik angefressenen Einfalt, in seinem sturen, gußeisernen Glauben, sei der rechte Mann fürs Volk, der notwendige Gegenpol zu den Leuten vorher. Es sei eine Revolution gewesen, eine erwünschte Revolution. Vieles Barbarische sei geschehen, aber das sei wohl die Begleiterscheinung jeder Revolution, und immer dann heulten die Betroffenen über Raub, Mord, Weltuntergang. Habe Gustav ihr nicht selber erst gestern die Klage eines verschollenen ägyptischen Schriftstellers vorgelesen, mehr als viertausend Jahre alt und sehr ähnlich dem, was Gustav jetzt sage? Es sei Scheußliches passiert, ja, aber dafür seien einzelne verantwortlich, nicht das Volk und nicht das neue Reich.

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