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Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Titel: Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lion Feucht Wanger
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schwoll ins Unermeßliche; Deutschland hatte die höchste Arbeitslosenziffer der Welt. Aber die Völkischen, mit eiserner Fresse, behaupteten, sie hätten die Arbeitslosigkeit vermindert.
    Lüge, Profit und die Stillung eigener Lüste gingen ineinander. Wer der herrschenden Partei angehörte, konnte den Konkurrenten in einem Konzentrationslager verschwinden lassen. Nächst dem Führer war der beliebteste Mann unter den Deutschen jener gewesen, dessen Stimme im Rundfunk das Volk am meisten liebte. Jetzt büßte er den Wettbewerb, den er dem Führer gemacht hatte, im Konzentrationslager. Durch die Drohung mit dem Konzentrationslager erpreßte man von dem jüdischen Gläubiger den Nachlaß der Schuld, von dem jüdischen Schuldner beschleunigte Zahlung. Dem jüdischen Hausbesitzer verweigerte man die Miete, »man werde sie ihm nach Palästina schicken«. Jeder Nichtvölkische lebte unter ständiger Drohung. Es genügte, zu konstatieren, die Fleischpreise hätten unter dieser Regierung angezogen oder das Programm eines völkischen Festes sei nicht gut zusammengestellt, um ins Konzentrationslager abgeführt zu werden. Schon eines solchen »Verbrechens« bezichtigt zu sein genügte, auch wenn es nicht begangen war. Gefiel einem der Völkischen die Nase eines Passanten nicht, so konnte er auf diese Nase schlagen. Erklärt er, der mit der Nase habe, als eine völkische Hymne angestimmt wurde, den Arm nicht schnell genug erhoben, war dies Rechtfertigung genug.
    Das Volk war gut. Es hatte Männer und Leistungen größten Formats hervorgebracht. Es bestand aus kräftigen, arbeitswilligen, fähigen Menschen. Aber ihre Zivilisation war jung, es war nicht schwer, ihren immer bereiten, unkritischen Idealismus zu mißbrauchen, ihre atavistischen Triebe anzufachen, ihre Urwaldsaffekte, so daß sie die dünne Hülle durchbrachen,und dies war es, was jetzt geschah. Von außen sah das Land aus wie immer. Die Straßenbahnen, die Autos fuhren, Geschäfte, Restaurants, Theater, zu einem großen Teil gezwungen, hielten ihren Betrieb aufrecht, die Zeitungen hatten die gleichen Köpfe, die gleichen Lettern. Aber innerlich verwilderte, verlumpte, verfaulte, verkam das Land von Tag zu Tag mehr, Roheit und Lüge fraßen an ihm, das ganze Leben wurde übelriechende Schminke.
    Sehr viele waren an öffentlichen Dingen uninteressiert. Sie glaubten dem vorgetäuschten Frieden des Alltags, den Festen und Kundgebungen, die die Völkischen, um das Elend der Bauern und Arbeiter, der Konzentrations- und Arbeitsdienstlager zu übertönen, in Fülle veranstalteten. Außerdem täuschten diejenigen, die in die Stellen der vertriebenen Begabten eingerückt waren, und diejenigen, die vom Abfall der neuen Mächtigen lebten, einen neuen Wohlstand vor. Der größte Teil des Volkes freilich fiel nicht darauf herein, es gab mehr Empörte als Zufriedene. Sie flüchteten, zogen Landsknechtsabteilungen vorbei, in die Hauseingänge, um nicht grüßen zu müssen, sie bissen sich auf die Lippen, hörten sie das gemeine Lied vom Judenblut, das vom Messer spritzen solle, auf daß es noch mal so gut gehe. Aber sie mußten schweigen; wer sich beim Sprechen ertappen ließ, kam vor den Richter.
    Da lernte man lügen in Deutschland. Viele rühmten laut die Völkischen, aber heimlich verfluchten sie sie. Ihr Kleid trug die braune Farbe der Völkischen, ihr Herz die rote der Gegner: Beefsteaks nannten sie sich. Die Partei der Beefsteaks war größer als die des Führers.
    Aber ihre Stimmen drangen nicht ins Ausland, und die Stimme des Auslands drang nicht zu ihnen. Es gab ein Landsknechtsquartier in Berlin-Köpenick, Demuth hieß es, berüchtigt, weil man dort die Gefangenen auf besonders wüste Art »unterrichtete«. Während man sie in den Kellern mißhandelte, ließ einer der Landsknechte im Hof sein Motorrad laufen, so daß das Geräusch des Motors das Geschrei der Gefolterten und das Klatschen der Hiebe übertönte. DieserMotor, angekurbelt, doch nur, um das Geschrei der Mißhandelten zu übertönen, das war das Sinnbild des Dritten Deutschen Reichs.
    Widersinn und Lüge war, was die Machthaber dieses Reiches taten und was sie ließen. Lüge, was sie sagten und was sie verschwiegen. Mit der Lüge standen sie auf, mit der Lüge legten sie sich nieder. Lüge war ihre Ordnung, Lüge ihr Gesetz, Lüge ihr Urteil, Lüge ihr Deutsch, Lüge ihre Wissenschaft, ihr Recht, ihr Glaube. Lüge war ihr Nationalismus, ihr Sozialismus, Lüge ihr Ethos und ihre Liebe. Lüge alles, und echt nur

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