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Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Titel: Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lion Feucht Wanger
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dem dichten, braunen Haar, dieses Gesicht war Deutschland.
    Das Deutschland von gestern. Es muß ihm gelingen, die Ruhe aus diesem Gesicht zu verjagen, auf daß das Deutschland von heute wieder das Deutschland von gestern werde. Groß, graublau mit kleinen, weißen Wellen im leichten Wind lag das Meer vor ihm, die Landschaft war weit, friedvoll. Welche Freude es ihr machte, mit bescheidenen Mitteln Ordnung in dieses verfallende Haus zu bringen. Er könnte hier eine gute Zeit haben, wenn er sich nur entschlösse, zu schweigen, Annas Ruhe nicht zu stören. Schade, daß er nicht schweigen darf.
    Sie aßen etwas rasch Zusammengeholtes, Eier, kaltes Fleisch, Früchte, Käse, Wein. Es war ein heiteres Mahl. Annas Pläne, was alles man in diesen fünf Wochen machen müsse, gewannen festere Gestalt. Zunächst also wird sie hier die Geschichte ein bißchen auf die Beine stellen. Sie hat sich ein bestimmtes Bild gemacht, wie das hier aussehen muß, und so wird es auch ausschauen. Freilich werden sie, wenn sie einmal soweit ist, gleich wieder fort müssen.
    Auch sonst hat sie feste Projekte. Sport, Training jeden Morgen, die schöne, leicht ansteigende Straße eignet sich gut zum Dauerlauf. Sie war ein methodisches Mädchen; aber sie hatte Humor, sie lachte mit, wenn Gustav sie wegen ihrer Pedanterie aufzog. Sie ist langsam, sie braucht Pedanterie. Es dauert zum Beispiel ziemlich lange, bevor sie sich in einem Menschen auskennt. Darum hat sie in der letzten Zeit systematisch physiognomische Theorien studiert. Gustav fragt sie, ob er klüger geworden sei in diesen letzten anderthalb Jahren, ob sie ihm etwas anmerke, ob er mit seinen Fünfzig endlich weiser sei. Anna schaut ihn ernsthaft an. Er habe sich verändert, erklärt sie. Sein genußsüchtiger Mund sei ein wenig schärfer geworden, auch um die Augen, der Nase zu, seien die Linien weniger weich, nicht mehr so willkürlich. Gustav hört sich ihre Analyse an, mit einem ganz kleinen Lächeln, nachdenklich.
    Des Nachmittags fuhren sie nach Toulon, den Hausrat vervollständigen. Der Betrag, den Anna dafür anlegen wollte, war klein. Sie liefen herum, in vielen Läden, Anna war unermüdlich, fand hier ein Stück, dort eines. Sie freuten sich an der Buntheit der Stadt, an ihrem Lärm, sie aßen im Hafen, dann zog Anna von neuem aus, allein, und schließlich erklärte sie triumphierend, jetzt habe sie alles zusammen, was sie sich wünsche.
    Es wurde Abend, und es wurde Morgen, der dritte Tag. Anna wird bald soweit sein, daß sie zufrieden ist. Gustav hatte immer noch nicht von dem gesprochen, was ihn bewegte. Nach dem Mittagessen sonnten sie sich auf den Klippen ihrer kleinen Bucht. Anna lag auf dem Bauch, beide Arme aufgestützt, und las, das Lexikon neben sich, in ihrem französischen Buch. Manchmal fragte sie Gustav um die genaue Definition eines Wortes, sie war eigensinnig, zuweilen beharrte sie, auch wenn er recht hatte.
    Er darf nicht auch diesen Tag vorbeigehen lassen, ohne zu sprechen. Umwegig, behutsam beginnt er. Das späte Frühjahr und der frühe Sommer seien in Deutschland die schönsteZeit. Eigentlich habe er sie bitten wollen, bevor sie wieder zu ihrer Arbeit zurückkehre, auf eine Woche oder zwei mit ihm nach Berlin zu fahren, in sein Haus an der Max-Reger-Straße. Er lag auf dem Rücken, die behaarten Hände unterm Kopf verschränkt; träg nachdenklich schaute er in den tiefen Himmel. Schade, schloß er langsam, daß das nun nicht möglich sei. »Wieso nicht möglich?« fragte Anna nach einer kleinen Pause, weiterlesend. Gustav richtete sich halb hoch. »Weißt du denn nichts? Hast du gar nichts gehört?«
    Nein, sie wußte nichts. Es stellte sich heraus, daß sie von Gustavs Affären, von jenem Manifest, von seiner Verfolgung nichts wußte. Es stellte sich heraus, daß sie im Grunde von der ganzen deutschen Schweinerei nichts wußte.
    Sie war empört über das, was Gustav geschehen war. Aber sie weigerte sich entschieden, aus diesem Fall Schlüsse aufs Ganze zu ziehen. In ihrer langsamen, bedächtigen Art setzte sie auseinander, wie sie die Dinge sah. Sprach mehr für sich als für ihn. Eine nationale Regierung hat einer noch nationaleren Platz gemacht. Man feiert das in großen, dummen Reden, man hält gigantische, dumme Demonstrationen ab. Aber wann jemals sind Volksreden, Demonstrationen gescheit gewesen? Der Boykott war natürlich eine scheußliche Sache, auch die Bücherverbrennung. Die Zeitungen seien widerlich zu lesen, das Geschrei der Völkischen

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