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Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Titel: Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lion Feucht Wanger
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Und wenn es hunderttausend Untaten seien, dann seien es hunderttausend Einzelfälle.
    Gustav schaute in ihr helles, ernstes Gesicht. Es war weniger ruhig als früher. Was sie sagte, war notdürftig aus allen Ecken zusammengeholt. Die Klage des ägyptischen Dichters von vor viertausenddreihundert Jahren. Sein gutes Gedächtnis hat die Worte festgehalten: »Die Fachleute sind verjagt, das Land wird von wenigen Sinnlosen regiert. Das Reich des Pöbels beginnt. Der Mann des Pöbels ist obenauf und nützt das aus in seiner Art. Er trägt das feinste Leinen und salbt seine Glatze mit Myrrhen, hat ein großes Haus und Kornspeicher. Früher lief er selbst als Bote, jetzt schickt er andere aus. Die Fürsten schmeicheln ihm, und die hohen Beamten des alten Staats machen in ihrer Not den neuen Emporkömmlingen den Hof.« Gustav ist ein Freund guter Zitate, aber das ist denn doch etwas weit hergeholt und genügt nicht, ihn zu widerlegen. Alles, was sie gesagt hat, ist Ersatz, tief unter ihrem sonstigen Niveau. Sie ist ein Mensch, wahrhaft von Grund auf. Wenn sie an etwas von ganzem Herzen glaubt, kann sie es gut ausdrücken. Was sie jetzt vorbringt, ist alles schwammig, bröckelig. Man braucht nicht lange Physiognomik studiert zu haben, um zu sehen, daß sie es nur halb glaubt.
    Gustav hatte es nicht schwer, sie zu widerlegen. Er hatte sich halb hochgerichtet, er stützte das Gesicht in die Hand; scharf im Lichtkegel der Bettlampe, war es der Mittelpunkt des Raums. Ja, es sei richtig, sagte er, nicht das Volk habe die Untaten begangen. Es sei ein großartiges Zeugnis für die Gutartigkeit dieses Volkes, daß es, von der Regierung vierzehn Jahre hindurch zu Pogromen gegen Sozialisten und Juden aufgeputscht, sich so ruhig gehalten habe. Nicht das Volk sei barbarisch, die Regierung sei es, das neue Reich, seine Beamten und seine Landsknechte. Alle die Untaten seien von Landsknechten der Regierung begangen, alle von der Regierung gedeckt worden. Die Barbarei liege nicht nur in den Taten, sie liege gerade in den Grundsätzen dieser neuen Männer. Sie hatten die alten Maßstäbe zerbrochen und Willkür und Gewalt legalisiert. Nicht daß die Untaten geschehen seien,werfe man dieser Regierung vor, sondern daß sie jede Untersuchung verhindere, die Ankläger einsperre und so immer neue Untaten von vornherein sanktioniere. Gustav sprach von den schamlosen Bekenntnissen zum Terror, die diese Leute in zehntausend Büchern, Reden, Verordnungen abgelegt hätten, von ihrer nackten, unverhüllten Futterjägerei. Von ihrem läppischen Rassendünkel. Sie haben einen Fetisch aus der Rumpelkammer herausgeholt, und der Magen kehrt sich einem um, wenn man zusehen muß, wie jetzt Professoren in ihren Hörsälen diesem Fetisch opfern, wie Richter auf ihren Stühlen im Namen dieses Fetisches Recht sprechen. Es ist eine scheußliche Komödie. Ein König in Unterhosen hockt da, und das Volk liegt auf den Knien und schreit, was er für einen herrlichen Ornat hat. Gewiß, sie bauen auch jetzt großartige Maschinen in Deutschland, sie arbeiten exakt in ihren Fabriken, sie machen herrliche Musik, viele Millionen Menschen bemühen sich, anständig zu bleiben. Aber neben ihnen hat sich der Urwald aufgetan, es wird gemartert und gemetzelt, und sie müssen krampfhaft wegsehen und weghören. Es seien die Untaten einzelner, zugegeben; zugegeben auch, jede einzelne Mißhandlung, jeder einzelne Totschlag sei ein kleines Ding, gemessen am Ganzen. Nur eben, daß das Ganze sich aus lauter solchen kleinen Dingen zusammensetze wie der Leib aus Zellen, und daß schließlich das Ganze verderbe, wenn zu viele Zellen zerstört seien.
    Gustav sprach auch diesmal nicht nüchtern, nannte kaum Ziffern und Daten. Aber er sprach aus, wovon er ganz voll war; es waren nicht Worte, die er vor sie hinbreitete, er schüttete sich selber aus. Sie schaute ihn an, seinen großen, erregten, redenden Kopf im Lichtkegel der Bettlampe, jedes Fältchen scharf beleuchtet. Er sah nicht jung aus, aber männlich, streitbar. Es war ein anderer Gustav als der, den sie kannte. Seine konziliante Lauheit war fort. Die Ereignisse hatten ihn gepackt, hatten sich mit ihm vermischt, hatten den Stoff, aus dem er gemacht war, verhärtet, verdichtet. Anna liebte ihn.
    Trotzdem glaubte sie nur halb. Was sich hinter dieser eckigenStirn einmal festgesetzt hatte, haftete. Es war eine aufreibende Arbeit, sie umzustimmen. Was Gustav aus ihr widerstand, war das ganze vergiftete, hypnotisierte Deutschland, das

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