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Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Titel: Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lion Feucht Wanger
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grauenvoll langsam aus seiner Betäubung in die Wirklichkeit zurückfinden wird. Da hatte er die Bestätigung, die er brauchte. Was er sich vorgesetzt hatte, war notwendige Arbeit.
    Er war da, wo er sein wollte. Eigentlich dürfte er sich jetzt ein paar ruhige Wochen mit Anna gönnen. Was er später zu tun hat, wird sehr hart für ihn sein. Sie, trotzdem sie nicht mehr viel über Deutschland sprach, war verwandelt. So zögernd sie sich gibt, sie wird, zurückgekehrt, ein anderes Deutschland sehen.
    Sie lebten ruhige, klare Tage in ihrem verwitterten Haus, das innen so voll Sauberkeit und Ordnung war. Im Frieden dieses hellen, lateinischen Meeresufers war es schwer zu begreifen, daß nur zwanzig Stunden entfernt das Land des Alpdrucks lag, dieses Deutschland, über dessen große Städte plötzlich die Schrecken des Urwalds hereinbrachen. Gustav und Anna gingen durch die weite, sanfte Landschaft, in edlem Schwung stieg die Straße die Klippe hinan, Rebe, Pinie, Ölbaum war ringsum, das Meer tönte gleichmäßig in ihr Schlafen und in ihr Wachen, ständig wehte der leichte, frische Salzwind. Ziegenherden kamen des Abends über die stillen Hügel. Leben war weit und ruhevoll, antikisch.
    Es gelang ihm, vier Tage hindurch kein Wort über Deutschland zu sprechen, ja, es gab Stunden, da er es vergaß. Dann, plötzlich, war es grauenvoll wieder da.
    Sie saßen in einem der kleinen, bunten Cafés im Hafen des nächsten Meerstädtchens, und Gustav las in einer Zeitung. Auf einmal, blaß unter seiner Bräune, ließ er die Zeitung sinken. Anna nahm sie auf. Da stand, der bekannte deutsche Professor Johannes Cohen habe im Konzentrationslager Herrenstein Selbstmord verübt. Auch Anna erblaßte, als sie es las, erst um die Augen, dann zog Blässe über ihr ganzes Gesicht. »Wir wollen gehen«, sagte sie.
    Sie fuhren nach Hause, schweigend. Gustav ging ans Meer hinunter, setzte sich auf einen Stein. Sie ließ ihn allein. Am Abend sagte sie: »Du hast recht gehabt, Gustav. Ich habe mich getäuscht. Ich habe weggesehen. Du hast recht, Deutschland ist anders. Es ist natürlich nicht dieser Tod allein, und es ist nicht, was du mir gesagt hast und was du mir zu lesen gegeben hast, und es ist nicht, weil man mir in Deutschland, wüßte man mich hier mit dir zusammen, die Haare abschnitte und mich als schamloses Geschöpf durch die Straßen führte. Aber wenn ich jetzt an das denke, was ich in Deutschland gesehen habe, und wenn ich es von hier aus anschaue, mit meinen neuen Augen, jetzt, von dieser Stunde aus, dann muß ich es heraussagen: Ich schäme mich, Gustav. Dieses neue Deutschland ist grundschlecht.«
    Gustav dachte an das gelbbraune, gescheite, hochmütige Gesicht seines Freundes Johannes. Selbstmord, Erschießung auf der Flucht, Herzschwäche, das waren die üblichen offiziellen Ursachen für den Tod im Konzentrationslager. Dann wurde, was von den Gefangenen geblieben war, zerbrochene Knochen, verstümmelte Fleischklumpen, in einen plombierten Sarg gelegt und den Angehörigen herausgegeben gegen Erstattung der Kosten und gegen die Zusicherung, daß der Sarg nicht geöffnet wird. Auch Todesanzeigen mit den Worten: »Plötzlich gestorben« verboten sie jetzt. »Die weitaus meisten meiner Freunde und Bekannten«, sagte er, »waren während des Krieges an der Front. Sehr viele sind gefallen. Ich habe meine Toten in diesen letzten Monaten nicht gezählt. Aber soviel ist gewiß: es sind, seitdem die Völkischen an der Herrschaft sind, mehr von meinen Freunden eines gewaltsamen Todes gestorben als in Kriegszeiten.«
    Als ihn Anna später fragte, was er tun werde, erwiderte er: »Nicht schweigen. Das ist alles, was ich weiß.« Anna, zögernd, fragte: »Ist das nicht unvorsichtig?«, und die Angst in ihrer Stimme beglückte ihn. Er zuckte die Achseln. »Ich kann so nicht weiterleben«, sagte er.
    Es wurde Sommer, Anna mußte zurück. Gustav brachtesie an den Bahnhof von Marseille. Sein Gesicht schien ihr ernsthafter als früher, knabenhafter und dennoch männlicher, zufriedener auf jeden Fall. Verwirrten Gefühls, ängstlich für sein Schicksal, beglückt über sein neues Wesen, fuhr sie über die Grenze.
    Er stand am Bahnsteig, sah Anna verschwinden, dem Lande des Alpdrucks zu. Die Zeit mit ihr war eine gute Zeit gewesen und voll Gewinn. Er wußte jetzt Bescheid über vieles, was früher, unbewußt und unbedacht, ihn bedrückt hatte.
    Vorläufig lebte er weiter in dem verwitterten Haus oben auf der Klippe, fern aller Hast. Die Ordnung,

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