Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Titel: Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lion Feucht Wanger
Vom Netzwerk:
in der Untergrundbahn als Ausnahme anzusehen. Solche Taten werden an der Tagesordnung sein in Deutschland, verkündet er, wie seinerzeit im zaristischen Rußland. Sengen und brennen wird man in der Grenadierstraße, in der Münzstraße, und auch den Kurfürstendamm wird man nicht verschonen. Die Herren werden was erleben.
    Markus Wolfsohn spendiert noch eine Bierflasche, hörtmit Vergnügen das schnalzende Geräusch, das sie beim Öffnen von sich gibt, betrachtet mit behaglichem Spott die gedrungene Boxerfigur des Schwagers. »Nu, und was sollen wir tun, Moritz?« fragt er. »Sollen wir alle in den Makkabi eintreten und boxen lernen?«
    Moritz Ehrenreich geht auf das törichte Gewitzel nicht ein. Er weiß genau, was zu tun ist. Fünfhundert englische Pfund muß man haben, um in Palästina einwandern zu dürfen. Infolge des Pfundsturzes ist er in den letzten Monaten seinem Ziel sehr viel näher gekommen. Vierhundertvierzig Pfund hat er bereits zusammen. »Wenn ihr gescheit wärt«, sagt er, »du, Markus, und du, Mirjam« – er nennt seine Schwester ebenso beharrlich Mirjam, wie Herr Wolfsohn sie Marie nennt –, »wenn ihr gescheit wärt, würdet ihr mitkommen.« – »Soll ich Hebräisch lernen auf meine alten Tage?« spaßt Herr Wolfsohn gut gelaunt. »Du würdest es nie fertigkriegen«, höhnt Moritz Ehrenreich. »Aber die Kinder solltest du Hebräisch lernen lassen. Es ist übrigens eine Oppermann in unserm Kurs, die stellt sich gar nicht schlecht an.«
    Daß eine Oppermann Hebräisch lernt, macht Herrn Wolfsohn nachdenklich. Auch die statistischen Ziffern, die Moritz Ehrenreich ihm nennt, hört er mit Interesse. Palästina ist eines der ganz wenigen Länder, die von der Krise verschont blieben. Die Ausfuhr steigt. Auch mit dem Sport geht es dort voran. Herr Ehrenreich erwartet, dort in nicht allzu später Zeit der Olympiade beiwohnen zu können. Er spricht ungestüm, heftig stapft er auf und ab, seine Worte überstolpern sich, seine Begeisterung macht Eindruck.
    Trotzdem denkt Herr Wolfsohn nicht im entferntesten daran, Berlin zu verlassen. Er liebt die Stadt, er liebt das Möbelhaus Oppermann, er liebt den Block an der Friedrich-Karl-Straße, seine Familie, seine Wohnung. My Home is my castle. Behaglich schaut er auf das schön gerahmte Bild, auf dem die Götter und Göttinnen Haschen spielen. Wäre nicht der Fleck darüber und Herr Zarnke nebenan, er wäre uneingeschränkt glücklich.Die Arme aufgestützt, sitzt Professor Edgar Oppermann am Schreibtisch im Chefzimmer der Laryngologischen Station. Strengen Gesichts starrt er auf die Haufen bedruckten und beschriebenen Papiers. Sosehr er alles andere liebt, was mit seiner Tätigkeit zusammenhängt, so verhaßt ist ihm das Chefzimmer, die Büroarbeit, die Administration. Oberschwester Helene, die, resolut und füllig, in der Nähe der Türe steht, schätzt ihn jeden Morgen von neuem ab wie einen eben eingelieferten interessanten Fall. Sie weiß, daß die beiden Gesichter, die die Welt an Edgar Oppermann am häufigsten wahrnimmt, ein ernstes, strenges, gesammeltes und ein anderes, betont frisches, zuversichtliches, Masken sind. Ja, er ist ein wilder, freudiger Arbeiter von Natur, er ist von Natur zuversichtlich, aber diese Zuversicht, diese Tatkraft den ganzen Tag zu zeigen, Hunderten von Leuten, immer neuen, das erfordert Anspannung, und sie weiß, daß seine Frische oft künstlich ist, krampfhaft.
    Schwester Helene kommt im allgemeinen mit ihrem Professor gut aus. Aber am Schreibtisch ist er schwierig. Sie sieht die senkrechten Furchen über seiner Nase, die sie sehr wohl kennt. Kein gutes Zeichen. Es ist erst kurz nach elf Uhr vormittag, Professor Oppermann hat Sprechstunde abgehalten, zwei, drei Visiten bei Privatpatienten gemacht, ein aufreibendes Tagewerk liegt noch vor ihm. Aber sie weiß, daß seine erste Energie schon verbraucht ist, daß er neu ankurbeln muß. Er ist überarbeitet. Ihr Professor ist immer überarbeitet. Wenn Frau Gina Oppermann nicht gar so zimperlich wäre, denkt Schwester Helene. Hier in der Klinik kann ja sie ihn schützen. Aber das Pack hat Lunte gerochen. Jetzt rufen sie den Professor in seiner Privatwohnung an, und Frau Gina, das traurige Huhn, kann seine ewige Bereitschaft gegen niemanden verteidigen.
    Heute sitzt Edgar Oppermann mit besonderem Widerwillen vor seiner Post. Die Dinge verfilzen sich mehr von Jahr zu Jahr. Einzelheiten, die sich früher automatisch erledigten, erfordern jetzt langwierige, widerwärtige Arbeit.

Weitere Kostenlose Bücher