Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]
der Krankheit genau abzugrenzen, genau festzustellen, wenn der Zweite Zustand in den Dritten übergeht. Man muß unbedingt Mittel finden, den Unsicherheitskoeffizienten herunterzudrücken.
Leidenschaftlich, linkisch spricht Dr. Jacoby auf seinen Chef ein. Stärker als je drängt sich dem die Überzeugung auf, daß, wenn einer, dieser Fanatiker der Präzision der Mann ist, das Oppermannsche Verfahren zu vervollkommnen. Diesem Jacoby sind wirklich die Ziffern seiner Krankheitsstatistik wichtiger als die Ziffern seines Einkommens. Er denkt nicht mehr daran, daß er mit dem einzigen Menschen spricht, der ihm eine gesicherte Existenz schaffen kann. Und auch dieser Mann vergißt, daß er in sehr kurzer Zeit eine Unterredung haben wird, entscheidend für das Schicksal seines Partners. Kauernd in seinem weißen Arztkittel, als ob ihn fröre, hockt der Kleine, in ungeschickter, starrer Haltung. Der andere aber läuft auf und ab, mit seinem lebhaften, etwas steifen Schritt, die Füße nach einwärts, der weiße Kittel umwallt seine Beine. Beide Männer haben ihre Sinne zugesperrt für alles, was nichts zu tun hat mit der Lebensfähigkeit und dem Fruchtbarkeitskoeffizienten eines gewissen Bazillus.
Plötzlich reißt es Edgar hoch. Er zieht die Uhr, es ist zwölf Uhr zehn. Siedendheiß fällt ihm ein, daß der alte Lorenz wartet. Er bricht ab, mitten im Satz. Der kleine Dr. Jacoby, soeben noch ein glänzender Wissenschaftler, erlischt, sowie er nicht mehr von seinen Mikroben reden kann, wird der graue, häßliche Zwerg, der er war. Soll Edgar ihm sagen, daß er seinetwegen fort muß? Ausgeschlossen. Der alte Lorenz ist einanständiger Bursche, aber in Büroangelegenheiten bleibt doch immer ein Unsicherheitskoeffizient, mindestens so hoch wie beim Oppermannschen Verfahren. Wie der Junge dasitzt, ein rechter Schlemihl. Hastig drückt Edgar ihm die Hand. Seine eigene Hand ist nicht groß, aber die winzige des andern verschwindet darin. »An einem der nächsten Abende müssen Sie bei mir essen, lieber Jacoby. Ich muß einmal ganz ausführlich mit Ihnen reden. Dieser verfluchte Berliner Betrieb.« Er lächelt; sein Kopf wird ganz jung, wenn er lächelt.
Wieder segelt er durch die Korridore. Er hat den kleinen Jacoby zum Abendessen eingeladen, er muß es Gina sagen, muß eine genaue Stunde vereinbaren, Schwester Helene muß ihn daran erinnern. Wenn möglich, soll es ein Abend sein, an dem auch Ruth Zeit hat. Wie kommt er plötzlich auf seine Tochter? Eine Assoziation mit dem kleinen Jacoby offenbar. Wieso eigentlich? Vielleicht macht es die Heftigkeit, man muß schon sagen: Besessenheit, mit der beide ihre Ziele verfolgen. Er selber, Edgar, lächelt über Ruths Zionismus. Er sollte sich mehr um sie kümmern. Ratio, ratio, meine Tochter. Geh nicht in ein Kloster, Ophelia. Schade, daß die einfachsten Dinge am schwersten begriffen werden. Er ist ein deutscher Arzt, ein deutscher Wissenschaftler, es gibt keine deutsche Medizin, es gibt keine jüdische Medizin, es gibt Wissenschaft und sonst nichts. Das weiß er, das weiß Jacoby, das weiß der alte Lorenz. Aber schon Ruth weiß es nicht, und gewisse andere, auf die es ankommt, wissen es noch weniger. Er denkt ein bißchen unbehaglich an die Konferenz, zu der er geht. Am Ende muß man den kleinen Jacoby nach Palästina schicken, lächelt er.
Im Chefzimmer ist es gekommen, wie Schwester Helene erwartet hat. Geheimrat Lorenz war pünktlich, ihr Professor ist unpünktlich, sie hat Zeit, den Geheimrat zu konsultieren.
Das Oppermannsche Verfahren, berühmt in der ganzen Welt, ist in letzter Zeit in der Berliner Tagespresse immer öfter das Ziel besonders gehässiger Angriffe geworden. Man wirftOppermann vor, er verwende die Patienten der dritten Klasse, die armen, unentgeltlich behandelten Patienten der Städtischen Klinik, als Versuchskaninchen für seine lebensgefährlichen Experimente. Der jüdische Arzt, heißt es in dem groben Jargon gewisser völkischer Blätter, scheue sich nicht, zu Zwecken eigener Reklame Ströme von Christenblut zu vergießen. Man muß endlich etwas machen gegen diese Schweinerei, meint Schwester Helene. Ihr Professor braucht sich nicht gefallen zu lassen, daß ihm jeder Rotzjunge vor den Bauch tritt. Sie steht am Schreibtisch, füllig, derb. »Ich meine, ich mach ihn endlich darauf aufmerksam, Herr Geheimrat«, erklärt sie mit ihrer leisen, energischen Stimme. »Er muß endlich etwas unternehmen.«
Geheimrat Lorenz sitzt da, kolossalisch, roter Kopf unter
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