Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]
Streng, alswären sie schlecht vorbereitete Examinanden, schaut er auf die Briefe.
Schwester Helene kommt resolut vor an den Schreibtisch. Weist auf einen Zettel, auf dem groß, dreimal rot unterstrichen, etwas vermerkt ist, fragt geradezu: »Haben Sie das gesehen, Herr Professor?« Professor Oppermann, im Arztkittel, die Haltung der breit aufgelegten Arme nicht verändernd, die Haltung des großen, schweren Kopfes nicht verändernd, schaut schief hinüber nach dem Zettel, sagt unwirsch: »Ja.«
Auf dem Zettel steht: »Herr Geheimrat Lorenz wird um zwölf Uhr vorbeischauen. Ersucht Herrn Professor Oppermann, wenn irgend möglich, da zu sein.«
Edgar Oppermann bläst unbehaglich durch die Nase. »Es ist wohl wegen Jacobys.« – »Weshalb sonst sollte es sein?« sagt streng Schwester Helene. »Der Fall Jacoby zieht sich jetzt lange genug hin.«
Der Fall Jacoby, überlegt Edgar Oppermann. Gibt es bereits einen Fall Jacoby? Die Dinge liegen doch so einfach. Dr. Müller II, der bisherige Oberarzt der Laryngologischen Station, hat die Professur in Kiel angenommen. Edgar Oppermann möchte gern seinen Lieblingsassistenten, den Dr. Jacoby, an seine Stelle berufen. Vor einem halben Jahr wäre die Besetzung binnen vierzehn Tagen im Sinne Oppermanns erfolgt. Dr. Jacoby ist wissenschaftlich besonders qualifiziert, ein ausgezeichneter Diagnostiker, Oppermann im Laboratorium unersetzlich. Aber er ist ein linkischer Mensch, aus einer armen Familie des Berliner Ghettos, unscheinbar, häßlich, überall gehemmt. Früher wäre so was kein Hindernis gewesen. Edgar Oppermann weiß, wenn Dr. Jacoby, der sich mühsam durchs Studium gehungert hat, erst die dringendsten Geldsorgen los ist, wenn er frei arbeiten kann, dann ist er zu großer Leistung berufen. Dr. Jacoby erinnert an die Judenkarikaturen der Witzblätter, zugegeben: aber was ist schließlich für den Patienten wichtiger, daß der Arzt ein gefälliges Gesicht hat oder daß er sein Leiden erkennt?
Edgar seufzte. Also Geheimrat Lorenz wünscht ihn zu sprechen. Lorenz ist leitender Arzt der gesamten Städtischen Klinik. Kein großer Theoretiker, aber ein tüchtiger Praktiker und nicht, wie viele solche Praktiker, ein Verächter der Theorie. Er hat Respekt vor der Wissenschaft und unterstützt sie demütig und nach Kräften. Er hat ihm auch prinzipiell zugesagt, daß er die Kandidatur des Dr. Jacoby unterstützen werde; dennoch hat Edgar ein Unbehagen vor dieser Unterredung.
Um zwölf Uhr will Lorenz kommen. Also muß Edgar die Krankenvisite dem Dr. Reimers überlassen. »Schön«, seufzt er. »Ich werde um zwölf Uhr da sein. Wenn ich mich ein paar Minuten verspäte, dann bitten Sie Geheimrat Lorenz zu warten.« Edgar verspätet sich immer, Schwester Helene rechnet damit. Heute kommt es ihr gelegen; sie hat mit Geheimrat Lorenz Dinge zu besprechen, die ihren Professor angehen.
Edgar wendet sich ihr zu. Nun er einen Entschluß gefaßt hat, hat sich sein Gesicht verändert, es ist wieder das frische, zuversichtliche Gesicht Edgar Oppermanns, wie die Welt es kennt. »Ins Labor wenigstens darf ich noch, was, Schwester?« lächelt er. »Und mit dem da«, er weist auf die Papiere ringsum, »mit dem da verschonen Sie mich für heut, nachdem ich schon die Konferenz mit Lorenz auf mich nehme.« Spitzbübisch, ein Schuljunge, der sich vor einer unangenehmen Aufgabe drücken will, schmunzelt er, steht auf, ist schon hinaus.
Schnellen Schrittes, die Füße nach einwärts, segelt er durch die langen, linoleumbedeckten Korridore ins Laboratorium. Dr. Jacoby sitzt vor dem Mikroskop, klein, gebeugten Rückens. Edgar Oppermann winkt ihm heftig, er möge sich nicht stören lassen. Allein Dr. Jacoby steht auf. Gibt, der schmächtige, bekümmerte, ungelenke Mensch, Edgar eine weiche, trockene Kinderhand. Edgar weiß, welche Mühe es den zu starker Transpiration neigenden Mann kostet, diese Hand immer trocken zu halten, so daß sie ihn bei der Ausübung seines Berufs nicht stört. »Wir dürfen uns nicht darüber täuschen,Professor Oppermann«, sagt Dr. Jacoby, »das Resultat im Fall 834 ist trostlos. Der Fall war Drittes Stadium.« Edgar zuckt die Achseln. Das Oppermannsche Verfahren, jenes chirurgische Verfahren, das ihn berühmt gemacht hat, kann von einem gewissen Stadium an ohne das Risiko letalen Ausgangs nicht mehr angewandt werden. Er hat das nie anders behauptet. Er vertieft sich mit Dr. Jacoby in ein Gespräch über die Statistik der Krankheitsfälle. Es gilt, die einzelnen Stadien
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