Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]
die sieben Prämien. Vielmehr ist die gesamte Bilanz des Monats November erstklassig.
Es werden Herrn Wolfsohn im Monat nach allen Abzügen zweihundertachtundneunzig Mark ausbezahlt, dazu Prämien und Prozente im Betrag von durchschnittlich fünfzig Mark. Dreihundert Mark gibt er an Frau Wolfsohn ab, für den Gesamtunterhalt der vierköpfigen Familie; nach Abzug der Abonnementskarte für die Untergrundbahn verbleiben ihm also für Mittagskaffee und Taschengeld etwa vierzig Mark. Einmal in der Woche nun pflegt Herr Wolfsohn in das Restaurant Zum Alten Fritz zu gehen und mit den Ollen Matjesheringen Skat zu dreschen. Er ist ein geschickter Spieler, und durch die Gewinne, trotzdem davon zwanzig Prozent an die Vereinskasse abzuführen sind, steigert er manchmal seine Monatseinnahmen um sechs bis sieben Mark. In diesem November nun hat er tolles Schwein gehabt. Bei der allmonatlichen Rechenschaftsablage kann er Frau Wolfsohn glatt acht bis zehn Mark verheimlichen.
Während er auf den Kellner wartet, um zu zahlen, überlegt er wollüstig, was er wohl mit dem verheimlichten Überschuß beginnen könnte. Er könnte zum Beispiel ein paar Krawatten kaufen, die ihm längst in die Augen gestochen haben. Erkönnte Fräulein Erlbach von der Buchhaltung einladen, mit ihm auszugehen. Er könnte einmal wieder im Zigarrengeschäft Meineke auf einen ausländischen Gaul setzen. Einen Gaul setzen. Klar, Mensch. Das ist es. Acht oder gar zwölf Mark sind eine schöne Sache, aber fett wird der Bissen erst, wenn daraus achtzig oder hundert werden. Markus Wolfsohn geht aufs Ganze, das weiß man im Geschäft, und das wissen die Ollen Matjes. Jetzt gleich, noch bevor er ins Geschäft zurückgeht, wird er bei Meineke vorbeispringen und setzen.
Herr Meineke begrüßt erfreut den alten Kunden. »Schon lange nicht mehr gesehen, Herr Wolfsohn. Na, wonach steht uns denn heut die Nase?« fragt er. »Marchesina ist stark gefragt«, erklärt er, »aber Sie wissen, lieber Herr Wolfsohn, ich selber habe nie eine Meinung.« Nein, Herr Wolfsohn hat keinen Mumm für Marchesina. Da lief ein Pferd, Quelques Fleurs hieß es. Herr Wolfsohn war stolz auf seine vornehme französische Aussprache. »Nö«, sagt er, »ich bin fest für Quelques Fleurs.«
Nach dem bewegten Morgen und Mittag wurde es ein ruhiger Nachmittag. Und dann kam der schönste Teil des Tages, der Abend.
Schon während der Heimfahrt, so rauchig und schlecht die Luft in der Untergrundbahn war, verspürt Markus Wolfsohn ein Vorgefühl jener Geborgenheit, die ihn in seiner Wohnung umgeben wird. Und dann steigt er die Stufen der Station hinauf. Da sind schon die vertrauten Bäume. Da das Wiesengrundstück, das sie im nächsten Jahr bebauen werden. Jetzt ist er in der Friedrich-Karl-Straße. Und jetzt, hier, ist sein geliebter Häuserblock. Ja, Markus Wolfsohn liebt den Häuserblock, er ist stolz auf seine zweihundertsiebzig Wohnungen, eine der andern gleich wie eine Sardinenbüchse der andern. Und hier in seine Wohnung gehört Herr Wolfsohn hinein wie die Sardine in die Büchse. »My home is my castle«, ist einer der wenigen Sätze, den er aus seinen drei Jahren Realschule behalten hat.
Er steigt die Treppen des Hauses hinauf. In jedem Stockwerkschlägt ihm Essensgeruch entgegen, durch die Türen dringt Radiomusik. Im dritten Stock die Tür rechts ist die seine.
Bevor er sie aufschließt, hat er wie jeden Tag seine kleine, grimmige Sensation. An der Tür nebenan nämlich ist eine Visitenkarte: Rüdiger Zarnke. Haßvoll schaut Herr Wolfsohn auf diese Visitenkarte. Er ist ein ruhiger Mann, aber oft überkommt ihn Lust, sie wegzureißen. Mit allen oder doch mit den weitaus meisten Insassen des Häuserblocks fühlt er sich eins, ihre Freuden, ihre Sorgen, ihre Meinungen sind die seinen, sie sind seine Freunde, Herr Zarnke ist sein Feind. Nicht nur, daß Herrn Zarnkes Schwager sich heftig um die Wohnung neben Zarnkes beworben hat, um seine, Herrn Wolfsohns Wohnung: Herr Zarnke pflegt außerdem bei jeder Gelegenheit aus seinen drei Fenstern drei Hakenkreuzfahnen herauszuhängen. Immerzu muß sich Herr Wolfsohn über Herrn Zarnke ärgern. Die Wände sind dünn, Tag und Nacht hört er Herrn Zarnkes laute, knarrende Stimme. Oft auch begegnet er ihm auf der Treppe; er kann nicht umhin zu konstatieren, daß Herr Zarnke große, starke, weiße Zähne hat.
Mit einem grimmigen Blick also auf die Visitenkarte schließt Herr Wolfsohn die Tür seiner Wohnung auf. Aus der Küche kommt die laute, singende
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