Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]
zweiunddreißig Mark hätte anlegen müssen. Herr Wolfsohn übrigens auch nicht, denn in Wirklichkeit hatte er vierunddreißig Mark bezahlt. Auch Elschens Wintermantel war so, daß Frau Hoppegart, die sich vorher so oft die Schnauze zerfranst hat, jetzt dieSpucke wegbleiben wird. Bob gar hat etwas ganz Großartiges bekommen: ein Bombenflugzeug. Drehte man es an, dann stieg es in die Luft und ließ eine Gummikugel fallen. Auf dem Schutzkarton stand aufgedruckt: »Prima Bombenflugzeug. Das Versailler Diktat verhindert Deutschland, seine Grenzen zu verteidigen. Der Tag wird kommen, da Deutschland die Sklavenketten bricht. Denke daran!«
Herr Wolfsohn hatte aber auch an sich selber gedacht. Jetzt kann ihn die Krankenkasse mit ihrem Pofel gern haben. Ein Einzelzahn. Er spendiert sich die Brücke. Heute morgen hat er sein altes Projekt in die Tat umgesetzt, hat den Ollen Matjes Hans Schulze angeläutet und die Renovierung seiner Fassade definitiv in Auftrag gegeben. Frau Wolfsohn wird er natürlich sagen, er habe nun doch bei der Krankenkasse die Brücke durchgesetzt. Fünfzig Emm wird er dem Schulze sofort nach Beendigung der Arbeiten auf den Tisch des Hauses legen, den Rest von fünfzehn Emm kann er bequem abstottern. Unmittelbar nach Weihnachten wird die Arbeit in Angriff genommen, schon in den ersten Tagen des neuen Jahres wird sich Markus Wolfsohn den staunenden Zeitgenossen neu furniert präsentieren können. Er hält an sich, nicht einmal Frau Marie erzählt er davon. Aber innerlich ist er sehr stolz. Er malt sich aus, wie er mit der neuen Fassade dastehen wird. Plakate schweben ihm vor, von denen elegante Herren mit großen, weißen Zähnen einem entgegenlachen. Keep smiling. Wenn er erst die neuen Zähne hat, wird ihm alles Butter in Butter sein.
Aus dem Radio klangen Glocken, Choräle, fromme Lieder. Die Kinder sangen: »Stille Nacht, heilige Nacht«. In fast allen Wohnungen des Blocks an der Friedrich-Karl-Straße sangen sie es. Lange Minuten lag Weihe über dem Häuserblock. Bei Wolfsohns wie bei den anderen. Dann splitterte ein Teil des Bombenflugzeugs ab, der kleine Bob bekam Schelte, heulte, wurde zu Bett gebracht. Dann fing ein Ästchen des Baumes Feuer, Elschen bekam Schelte, heulte, wurde zu Bett gebracht.
Während Frau Marie mit den Kindern beschäftigt war, saß Markus Wolfsohn in dem schwarzen Ohrenstuhl, Okkasion, vor sich hin dösend, zufrieden. So saßen viele in dem Block an der Friedrich-Karl-Straße, vor sich hin dösend, zufrieden. Die Zufriedenheit jedes einzelnen verstärkte die Zufriedenheit aller. Herr Wolfsohn war einer dieser Zufriedenen. Er wünschte allen das Beste.
Außer einem. Er lächelte breit und voll Genugtuung, als jetzt aus der Nebenwohnung, das Radio übertönend, heftiges Geschrei drang. Ohne sich anstrengen zu müssen, erlauschte Herr Wolfsohn, daß jetzt der kleine Zarnke ein Teilchen seines Bombenflugzeugs abgebrochen hatte und Prügel erhielt. Herr Zarnke erklärte dabei, wie teuer das Bombenflugzeug gewesen sei; zwei Märker und achtzig Pfennige habe er blechen müssen. Das erhöhte Herrn Wolfsohns Befriedigung; denn er hatte nur zwei Mark fünfzig gezahlt.
Auch sonst gestaltete sich der Weihnachtsabend bei Zarnkes, bei aller Ähnlichkeit des äußeren Verlaufs, weniger friedlich als bei Wolfsohns. Frau Zarnke hatte ihrem Mann dreimal erklärt, daß ein gewisses Paar brauner Lederhalbschuhe in der Tackfiliale in Tempelhof besonders preiswert sei. Herr Zarnke hatte aber nicht ihr diese Lederhalbschuhe, sondern sich das Buch des Führers »Mein Kampf« geschenkt. Bei aller Hochachtung vor der politischen Betätigung ihres Mannes fand Frau Zarnke dieses Verhalten egoistisch und konnte nicht umhin, ihre Anschauungen in verblümten, aber hinreichend spitzen Redensarten kundzutun. Herr Zarnke seinesteils antwortete als deutscher Mann unverblümt. Die laute, lang anhaltende Auseinandersetzung trug dazu bei, Herrn Wolfsohns Behagen zu erhöhen.
Lächelnd in seinem schwarzen Ohrensessel saß er, beschaute das Bild »Spiel der Wellen«, den Fleck an der Wand, der jetzt bereits unter das Bild reichte, hörte die frommen Weisen des Radios, den Krach in der Nebenwohnung, fühlte sich eins mit allen andern Bewohnern des Blocks an der Friedrich-Karl-Straße. Feierte stille, fröhliche Weihnachten.Den Abend darauf waren Wolfsohns zu Gast in der Wohnung Moritz Ehrenreichs, in der Oranienstraße, im Zentrum Berlins. Die Wolfsohns kamen nicht oft zu den Ehrenreichs, sie gingen
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