Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]
überhaupt selten aus. Markus Wolfsohn fühlte sich am wohlsten in seiner eigenen Wohnung. Aber es war Chanukka, das Lichterfest – das Fest fiel diesmal sehr spät, gewöhnlich war es zwei bis vier Wochen vor Weihnachten –, und es hatte sich der Brauch herausgebildet, daß Wolfsohns anläßlich dieses Festes die Verwandten in der Oranienstraße alljährlich besuchten.
Markus Wolfsohn, noch erfüllt von der Stimmung des harmonisch verlaufenen gestrigen Weihnachtsabends, saß bequem in einem der beiden mit grünem Rips überzogenen Sessel, die das Wohnzimmer seines Schwagers Moritz schmückten, und rauchte eine von den zwanzig Zigarren, die Moritz Ehrenreich ihm anläßlich des Festes splendiderweise geschenkt hatte. Es waren Zigarren zu fünfzehn Pfennigen. Mit allem Drum und Dran kostete der Abend Moritz mindestens sieben bis acht Märker. Eigentlich eine dolle Artischocke, der Junge. Ist aufgeklärt, liest viel, und trotzdem hält er so strenge fest an altem Quatsch wie diesem Chanukkafest. Oder ist es vielleicht nicht Quatsch, wenn einer mitten im Berlin von 1932 Lichter anzündet, um einen Sieg zu feiern, den vor zweitausend Jahren irgendein oller jüdischer General über irgendwelche ollen Syrer erfochten hat? Merkt man heute etwas von der Freiheit, die dieser olle General angeblich gebracht hat? Sie schmeißen die Juden aus der fahrenden Untergrundbahn. Heißt das Freiheit?
Dennoch betrachtet Herr Wolfsohn mit gutmütigem Interesse den sonderbaren Beleuchtungskörper, den Moritz angezündet hat, um das Fest dem alten Ritus gemäß zu feiern. Es ist ein Steg mit acht Vertiefungen und Schnäuzchen für Öl und Docht und einem neunten Licht vorne; hinter dem Steg ist eine Rückwand in Form eines Dreiecks aus sehr dünnem Silber, und in getriebener Arbeit sind darauf Mose und Aaron dargestellt, Mose mit der Gesetzestafel, Aaron mit hoherMütze und Priesterrock. Die Ehrenreichs haben diesen Leuchter aus der Familie der Frau geerbt, er ist sehr alt. Was er wohl wert sein mag? Herr Wolfsohn stellt sich diese Frage jedes Jahr. Wenn man solche Dinge verklopft, bekommt man immer nur einen winzigen Teil von dem, was man erwartet.
Jetzt singen sie die Hymne: »Moaus zur jeschuosi, Hort und Fels meines Heils«. Es ist eine sehr alte Hymne, so was wie die jüdische Nationalhymne; Moritz erklärt immer, er feiere das Fest aus nationalen Gründen, nicht aus religiösen. Die Melodie ist einprägsam. Moritz legt kräftig los, die hellen Stimmen der Frauen und Kinder fallen ein, selbst Markus Wolfsohn brummt mit. Der Gesang überdeckt das Geräusch des Radios, das aus den Wohnungen oben, unten und nebenan kommt. Das Lied zu Ende, bemerkt Frau Mirjam, genannt Marie, eigentlich sei die Chanukka-Hymne schöner als das Weihnachtslied »Stille Nacht, heilige Nacht«. Moritz Ehrenreich erklärt bösartig, darüber enthalte er sich des Urteils. Herr Wolfsohn entschied, beide Lieder seien gleich schön.
Nachdem die Kinder zu Bett gebracht sind, erörtern Frau Wolfsohn und Frau Ehrenreich Dinge des Haushalts. Die Herren Wolfsohn und Ehrenreich aber lassen sich über Fragen der Politik und Wirtschaft aus. Je skeptischer und quietistischer Markus sich gibt, um so kräftiger kniet sich Moritz Ehrenreich in seine heftigen Anschauungen hinein. »Sieh dir das mal an«, eifert er und holt einen Zeitungsausschnitt hervor. »Da schreibt ein Dr. Rost: ›Immer noch gibt es ein paar Deutsche, die sagen: gewiß, die Juden sind an allem schuld, aber gibt es nicht auch ein paar anständige Juden? Das ist Quatsch. Denn wenn jeder Nazi auch nur einen einzigen anständigen Juden kennt, dann müßte es doch, bei den zwölf Millionen Nazi, zwölf Millionen anständige Juden in Deutschland geben. Es gibt aber in ganz Deutschland überhaupt keine sechshunderttausend.‹ Nee, unter einem Volk, das sich Führer mit solcher Logik gefallen läßt, unter dem will ich nicht leben.«
Markus Wolfsohn denkt über das Argument des Dr. Rost nach. Auch ein guter Verkäufer muß manchmal eine kühneLogik entfalten; aber wenn er den Kunden des Hauses Oppermann mit der Logik des Dr. Rost käme, es wäre doch zu riskant. Im übrigen, erklärt er Moritz, sind die Hakenkreuzler zu ihm persönlich eigentlich ganz nett. Natürlich kommt es vor, daß Kunden sich weigern, sich von jüdischen Verkäufern bedienen zu lassen; aber sie können selten die christlichen Verkäufer von den jüdischen unterscheiden. Einmal sogar hat einer einen christlichen Verkäufer als Juden
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