Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]
abgelehnt und wollte ausgerechnet von ihm, Wolfsohn, bedient sein.
Moritz stapfte breitbeinig im Zimmer auf und ab, lachte höhnisch. »Du wirst auch nicht gescheit, eh du nicht mit verbundenem Kopf zum Charitéfenster herausschaust. «
Markus lächelte. Im stillen freilich sagte er sich, einen von den Brüdern kenne auch er, dem er nicht weniger zutraue als Moritz: Herrn Rüdiger Zarnke. Herr Zarnke würde ihn ohne Fackeln aus der fahrenden Untergrundbahn hinauswerfen. Er hätte dann zwei Fliegen mit einem Schlag: eine Tat im Sinne der völkischen Weltanschauung und die Wohnung für seinen Schwager.
Moritz grollte weiter. Wer war es denn, der der deutschen Kultur ihren Ruf in der Welt verschafft hat? Die zehn Millionen konservativen Juden, die jiddisch sprechen, ihr altertümliches Deutsch. Sie haben am tiefsten an die deutsche Kultur geglaubt. Sie allein haben während des ganzen Krieges zu den Deutschen gehalten. 12 723 deutsche Juden sind in diesem Krieg gefallen, 2,2 Prozent aller deutschen Juden, viel mehr als der entsprechende Prozentsatz der Gesamtbevölkerung. Dabei sind die getauften Juden und die Judenstämmlinge nicht mitgerechnet. Zählt man sie dazu, dann kommt man auf etwa fünf Prozent, sicher auf mehr als das Doppelte des entsprechenden Prozentsatzes der Gesamtbevölkerung. Jetzt haben sie den Dank dafür, die deutschen Juden. »Nee, ich mache nicht mehr mit. Weg mit Schaden. Achtzehn Pfund fehlen mir noch, dann hab ich den Zaster zusammen für Palästina. Das ist heuer das letzte Makkabäerfest, das wir hier zusammen feiern. Ich haue ab.«
Die Chanukkalichter brannten herunter. Markus Wolfsohn hörte gelassen dem andern zu, rauchte die dritte von Moritz’ Zigarren, trank einen Asbach Uralt. Er hatte seine Meinung, und Schwager Moritz hatte die seine. Wäre ja auch uninteressant, wenn jeder die gleiche Meinung hätte. Wenn Schwager Moritz durchaus kein Sitzfleisch hat, soll er man nach Palästina abhauen; er, Markus, wird ihn an den Zug bringen und Winke-Winke machen. Aber er bleibt im Lande und nährt sich redlich.
Am gleichen Abend hatte auch Jacques Lavendel zwei Gäste zu einer Chanukkafeier gebeten, seinen Neffen Berthold und seine Nichte Ruth Oppermann. Jacques Lavendel hatte eine Sammlerliebe für Gegenstände des alten jüdischen Ritus. Er hatte fünf besonders schöne alte Chanukkaleuchter, zwei italienische aus der Renaissancezeit, einen polnischen mit zwei Fabeltieren und segnenden Priesterhänden, einen württembergischen mit Vogelfiguren und einem Glöckchen und einen aus der Bukowina, aus dem achtzehnten Jahrhundert, seltsamerweise mit einer Uhr versehen, ein Stück, das ihm infolge seiner Absurdität besonderen Spaß machte.
Auch hier sang man die Hymne: »Moaus zur jeschuosi, Hort und Fels meines Heils«. Jacques Lavendel sang sie mit seiner heiseren Stimme, er hatte kindliches Behagen daran. Berthold sah etwas angefremdet auf den singenden Mann. Lichter und Hymne sagten ihm nichts. Der Weihnachtsbaum sagte ihm mehr. Er nahm die Chanukka-Zeremonien nur eben in Kauf. Er war hergekommen in der geheimen Hoffnung, einmal mit Onkel Jacques und mit Heinrich seinen Fall durchsprechen zu können, jene peinliche Sache mit Dr. Vogelsang, die beängstigenderweise nicht weitergekommen war als am ersten Tag und von der er doch wußte, daß sie nicht ruhte. Er hat seither mit niemandem darüber gesprochen; es widerstrebt ihm, sich den Eltern anzuvertrauen oder Onkel Joachim. Diejenigen, die ihn am besten verstehen werden, sind doch wohl Onkel Jacques und Heinrich. Ein bißchen ungeduldig wartete er, bis das Abendessen vorbei war. Man aß gutbei Onkel Jacques Lavendel, lang und reichlich. Ruth Oppermann verhöhnte Onkel Jacques, weil der angeblich nur, wenn er die alten Bräuche übte, etwas von jener geheimnisvollen Bindung spürte, die nun seit Jahrtausenden die Juden der Erde zusammenhält. Onkel Jacques verhöhnte Ruth, weil die mit Heftigkeit erklärte, einzig und allein der politische Zusammenhalt vermöge dem Judentum Dauer zu geben.
Der Abend war schon weit vorgerückt, und Berthold war noch immer nicht dazu gekommen, von dem zu sprechen, was ihm am Herzen lag. Er wird wohl auch nicht mehr dazu kommen, es war ein verlorener Abend. Er bereitete sich vor, bald aufzubrechen.
Ruth Oppermann erzählte soeben ein Erlebnis, das einem ostjüdischen Kinde zugestoßen war. Der kleine Jacob Feibelmann ging in eine von zumeist nationalistischen Kindern besuchte Schule. Ein großer Teil seiner
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