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Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Titel: Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lion Feucht Wanger
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Klasse war in einem völkischen Jugendverband organisiert. Die Jungens waren mit Gummiknüppeln ausgerüstet. Eines Tages nun erklärte einer, sein Knüppel sei gestohlen. Der Lehrer, empört, daß es Diebe in seiner Klasse gebe, ordnete eine Untersuchung aller Schultaschen an. Der Knüppel fand sich in dem Schulranzen des kleinen Feibelmann, er war offenbar hineingeschmuggelt worden. Ungeheures Hallo: Schmulchen war der Dieb. Der Kleine mußte die Schule verlassen. Das Kind sei verstört seither, erzählte Ruth, es heule immerzu, es sei nichts mehr mit ihm anzufangen.
    Wie Ruth zu Ende war, plötzlich, ging Berthold der Mund auf. Ohne Übergang begann er von seinem Fall zu erzählen, von jenem Vortrag über Hermann den Deutschen, ihm eigentlich aufgezwungen, von der Unterbrechung durch Dr. Vogelsang, von der Aufforderung, er solle sich entschuldigen. Er konnte nicht verhindern, daß, während er erzählte, sein breites Knabengesicht angestrengt aussah, nachdenklich, bekümmert. Dennoch gelang es ihm, gefaßt zu bleiben, männlich; ja, ab und zu erreichte er sogar jene Leichtigkeit und Beiläufigkeit, die er anstrebte.
    Es wäre eine schwere Niederlage gewesen, wenn die andern seine Geschichte mit der gleichen Beiläufigkeit aufgenommen hätten, mit der verfluchten Gleichgültigkeit der Erwachsenen, Erfahrenen. Sie taten es nicht. Fast war es Berthold unlieb, wie ernst sie sie nahmen.
    Onkel Jacques hielt den Kopf schräg, zog die Lider weit über die blauen Augen, dachte nach. »Als die Römer in Judäa standen«, sagte er schließlich, »nahmen sie von den Juden sehr hohe Zölle. Fragten die Rabbinen des Talmud: ›Soll man seine Ware richtig deklarieren oder nicht?‹ Antworteten die Rabbinen: ›Weh dem, der es sagt; weh dem, der es nicht sagt.‹ Was du tust, mein Junge, er wird versuchen, dir einen Strick zu drehen.« Er machte eine kleine Pause und fuhr fort: »Ich würde weder ja noch nein sagen. Ich würde erklären: ›Das und das hab ich gemeint. Wenn sich aber jemand beleidigt fühlt, dann tut es mir leid, und ich will es nicht gesagt haben.‹ Rektor François ist ein vernünftiger Mensch.«
    Heinrich saß auf einer hohen Truhe, er liebte ungewöhnliche Sitzgelegenheiten, und schnellte die Beine abwechselnd auf gymnastische Art vor. »Rektor François«, sagte er, »is a good old fellow. Aber die Boys werden es für einen Rückzieher halten. Der Lange Lulatsch, das ist ein gewisser Werner Rittersteg, hat bei einer Vorstandssitzung des Fußballklubs erklärt, man müsse Berthold ausschließen, weil er sich noch nicht entschuldigt habe. Ich habe ihm vorläufig eine heruntergehauen. Zwei Tage später hat er erklärt, wenn Berthold sich entschuldige, sei es falsch. Manneswort ist Manneswort, und es ist gegen die Ehre.«
    »Ehre, Ehre«, sagte Onkel Jacques und wiegte den Kopf. Er sagte nichts weiter, aber niemals hatte Berthold eine schärfere Kritik an dem Begriff Ehre gehört als diese.
    »Ich glaube übrigens nicht«, fuhr Heinrich fort, beflissen seine Fußspitzen betrachtend, »daß Vogelsang, das Schwein, sich mit einer halben Erklärung begnügt. Die Sache ist nicht anders aus der Welt zu schaffen als durch eine runde, klare Entschuldigung.« Er hörte auf, die Beine vorzuschnellen,sprang von der Truhe. »Go ahead«, wandte er sich an Berthold. »Mach Zoff. Man kommt nicht auf gegen den ganzen Schulapparat. Du hast Zivilcourage genug gezeigt. Was du über den ollen Indianer gesagt hast, ist sicher richtig. Aber es hat keinen Zweck, solchen Burschen gegenüber auf einer Behauptung zu bestehen, bloß weil sie wahr ist. Da ist nordische List viel besser angebracht als Bekennermut. Das muß ich schon sagen«, schloß er weise und schaute plötzlich seinem Vater ähnlich, »praktisch hast du aus deinen Studien über Hermann den Deutschen verflucht wenig gelernt.«
    »Falsch, falsch, falsch«, ereiferte sich Ruth Oppermann. Sie schüttelte den olivbraunen Kopf mit den schwarzen Haaren, die immer etwas wirr und unordentlich ausschauten. »Mit solchem Opportunismus kommst du bei diesen Leuten nicht durch. Es gibt ein einziges, was denen imponiert: Schneid, nichts als Schneid.«
    Berthold schaute seine Kusine verwundert an. Hatte sie nicht Hermanns Tat schrankenlos bewundert? Und jetzt verlangte sie, daß er seine rationalistische Kritik an dieser Tat aufrechterhalte? So war sie immer. Nicht eben logisch, aber eine Persönlichkeit.
    Die Chanukkalichter waren herabgebrannt. Jacques Lavendel holte

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