Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]
Gutwetter und schaute ihn aus seinen riesigen Kinderaugen freundlich an. »Ich stelle es mir anders vor«, sagte er sanft. »Ich glaube, der Krieg ist nur ein Vorspiel gewesen. Das Jahrhundert der großen Schlachten hat erst begonnen. Ein Jahrhundert der Vernichtung wird es sein. Die Endgeschlechter der weißen Rasse werden unerbittlich aneinandergehen. Der Donner wird sich mit dem Meer, das Feuer mit der Erde begatten. Für diesen Kampf muß man Gehirne mit Hörnern züchten. Darin sehe ich den Sinn des nationalen Reiches, das kommen wird. Eine militante Transzendenz, ein Richtertum aus hohen, wehrenden Gesetzen, Züchtung von Rausch und Opfer für das Sein verwandlungsloser Tiere: das ist die Perspektive.« Er sprach sanft mit seiner beschaulichen Stimme, der gepflegte Kopf kam still aus dem hohen, der Tracht eines Geistlichen ähnlichen Rock, die kindlichen Augen blickten träumerisch.
Die beiden andern, nachdem er zu Ende war, schwiegen eine kleine Weile. Dann sagte Mühlheim: »Schön. Wenn Sie meinen. Aber vorher nehmen Sie vielleicht noch einen Kognak und eine Zigarre.«
Im Jahre 1905 erschien in Moskau ein Buch unter dem Titel »Das Große im Kleinen, der Antichrist als nahe politische Möglichkeit«. Verfasser des Buches war ein gewisser Sergius Nilus, Beamter der Synodalkanzlei. Das zwölfte Kapitel hatte einen Anhang, überschrieben »Protokolle der Weisen von Zion«. Diese »Protokolle« enthielten Berichte über einegeheime Versammlung der führenden Juden der Welt, die angeblich im Herbst 1897, anläßlich des ersten Zionistenkongresses, in Basel getagt haben sollte, um die Richtlinien für die endgültige Erringung der jüdischen Weltherrschaft festzulegen. Das Buch wurde in viele fremde Sprachen übersetzt und machte starken Eindruck, vor allem auf die deutschen Akademiker. Im Jahre 1921 erwies ein Mitarbeiter der Londoner »Times«, daß diese »Protokolle« zu einem großen Teil wörtlich aus einer im Jahre 1868 erschienenen Broschüre eines gewissen Maurice Joly abgeschrieben waren. In dieser Broschüre waren Anhänger Napoleons III., Freimaurer und Bonapartisten, bezichtigt worden, ein ungeheures Komplott zur Errichtung der Weltherrschaft angezettelt zu haben; der Autor der »Protokolle« hatte einfach die Worte »Freimaurer und Bonapartisten« durch das Wort »Juden« ersetzt. Soweit die »Protokolle« nicht aus der Broschüre Jolys abgeschrieben waren, waren sie dem Roman »Biarritz« entnommen, den ein gewisser Goedsche unter dem Pseudonym John Retcliffe gleichfalls im Jahre 1868 veröffentlicht hatte. In diesem Roman war geschildert, wie sich alle hundert Jahre einmal die Fürsten der über die ganze Welt verstreuten zwölf Stämme Israels auf dem alten jüdischen Friedhof in Prag treffen und darüber beraten, was weiter zu geschehen habe, damit die jüdische Weltherrschaft sich stabilisiere. In der gesamten zivilisierten Welt erhob sich nach Aufdeckung der albernen Fälschung schallendes Gelächter. Nur in Deutschland, vor allem an den Universitäten, glaubte man weiter an die »Protokolle«.
Gustav Oppermann hatten die »Protokolle« und was damit zusammenhing immer besonderen Spaß gemacht. Er war interessiert an Dokumenten menschlicher Dummheit; er besaß eine kleine Spezialsammlung, die Ausgaben der »Protokolle« und die Literatur darüber enthielt.
Am letzten Tag des Jahres nun pflegte Rektor François bei ihm zu Mittag zu essen. François hatte eine besonders amüsante Ausgabe der »Protokolle« aufgetrieben, von einem gewissenAlfred Rosenberg, und brachte sie Gustav als kleines Geschenk mit.
Das Mittagessen verlief fröhlich, unter guten Reden. Rektor François entstammte einer französischen Emigrantenfamilie; Vernunft, Humanität waren von jeher Tradition in dieser Familie gewesen, stolz hielt man dort fest an den großen Ereignissen des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts. Jetzt freilich, unter dem Einfluß Frau Emiliens, des Donnerwölkchens, war Rektor François vorsichtig geworden und wagte nur im vertrauten Freundeskreis auf seine Abstammung hinzuweisen. Hier, im Gespräch mit Gustav, durfte sich Alfred François ganz gehenlassen. Sein literarischer Geschmack war der gleiche wie Gustavs, wie der haßte er Politik, war wie der ein fanatischer Kämpfer für die Reinheit des Worts. Hier konnte François die bedrängte Brust entladen. Die beiden Männer wußten um die menschliche Dummheit, die tief ist wie das Meer. Sie wußten aber auch, daß am Ende immer Vernunft die
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