Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]
alles beweisen und widerlegen. Aber in Wahrheit war er, Heinrich, der Erwachsene und Berthold der Kindskopf. Er hätte ihm verdammt gern geholfen. Aber da stand man hilflos vis à vis und mußte zuschauen, wie der Junge sich abzappelte. Zum Kotzen. Er wagte nicht, ein zweites Mal mit Berthold zu reden. Sie blieben ziemlich schweigsam, wenn sie miteinander nach Hause radelten. Aber oft jetzt begleitete er Berthold eine Straßenecke weiter, trotzdem das ein Umweg war, und Berthold bemerkte es wohl.
Der Schüler Werner Rittersteg, der Lange Lulatsch, hatte nach Heinrichs Ohrfeige zunächst von seinen Werbungen abgelassen. Ja, er hatte sich zuweilen piepsig und hysterisch über den früher bewunderten Kameraden lustig gemacht. Aber als er gelegentlich um einen Bleistift bat und der immer gefällige Heinrich, als wäre nichts geschehen, ihm den seinen hinreichte, hielt sein Groll nicht vor. Den Tag darauf begrüßte er Heinrich wieder mit den Worten: »How are you, old fellow?« und begann von neuem mit seinen heftigen Freundschaftsbezeigungen. Heinrich blieb kühl. Wie er von den Angriffen des Langen Lulatsch nicht Kenntnis genommen hatte, so ließ er sich seine Werbungen nur eben gefallen.
Wie Rittersteg jetzt wahrnehmen mußte, daß Heinrich sich immer enger an Berthold anschloß, überfiel ihn von neuem der Zorn. Er, ein reinblütiger Arier und somit von Natur jedem Juden überlegen, dazu von Bernd Vogelsang in die Reihen der Jungen Adler aufgenommen, ließ sich herab, Heinrich seine Freundschaft anzutragen, und der Undankbare zog ihm diesen protzigen Oppermann vor. War solcheSchmach erhört? An sich natürlich konnte es ihm piepe sein, was ein Judenjunge von ihm dachte. Aber es war ihm leider nicht piepe. Es wurmte ihn, es brannte ihn, daß Heinrich nichts von ihm hielt. Er mußte ihm zeigen, daß er ein stärkeres Kaliber war als dieser feine, geschniegelte Oppermann. Er mußte einen großen Coup landen, einen Schlager, daß Heinrich endlich die Augen aufgingen.
Um jene Zeit hatte der Wahlkampf eingesetzt, und in dem demokratischen »Tagesanzeiger« hatte der sehr bekannte Journalist Richard Karper, von den völkischen Zeitungen humoristischerweise beharrlich Isidor Karpeles genannt, sich über die vielen stilistischen Schnitzer des Führers lustig gemacht. Das Blatt war daraufhin zwar verboten worden: aber der Aufsatz hatte gewirkt, vor allem auch auf Oberlehrer Vogelsang. Den trieb es, sich in seinem Bereich mit dem tückischen Widersacher auseinanderzusetzen. Er hängte die kleinlichen Angriffe des Isidor Karpeles, genannt Karper, vor den Schülern seiner Unterprima niedriger. Erklärte ihnen, daß es beim Staatsmann auf das Ethos ankomme, nicht auf die Details der Form. Legte ihnen seine Lieblingstheorie dar, die von der Überlegenheit der Rede über die Schrift. Zitierte ihnen, nachdem er die schlimmsten Verstöße gegen den deutschen Sprachgeist daraus ausgemerzt hatte, Sätze des Führers über diesen Gegenstand. Brandmarkte den Karper-Karpeles, den Verkleinerer des Führers, als eines jener Elemente, die an der Zersetzung, an dem politischen und moralischen Niedergang des deutschen Volkes die Hauptschuld trügen.
Werner Rittersteg richtete die vorgewölbten Augen demütig auf den Mund des verehrten Lehrers, unter dessen weizenblondem Schnurrbärtchen die zürnenden Worte groß hervorkamen. Aber er konnte das Aug des Lehrers nicht erreichen, vielmehr schaute der, Werner Rittersteg sah es genau, starr auf Berthold Oppermann. Ja, es war kein Zweifel, der ganze scharfe Angriff Vogelsangs richtete sich im Grunde gegen Berthold Oppermann.
Der Lange Lulatsch schaute auf Heinrich. Der hatte dieArme verschränkt auf die Bank gelegt, hielt den breiten, blonden Kopf gesenkt, wie stoßbereit. Werner Rittersteg nahm dies alles wahr. Hörte aber gleichzeitig aufmerksam auf Vogelsangs Worte, und keines ging ihm verloren.
In der Zwölfuhrpause, im Schulhof, trat er auf Heinrich Lavendel zu. Es war ein klarer Tag, warm, an diesem Februartag war zum erstenmal etwas wie Frühling in der Luft. »Look here, Harry«, sagte er und hielt ihm an Stelle des geborgten einen neuen Bleistift hin, einen großen, gelben Kohinoor. Er hatte ihn selber angespitzt, sehr sorgfältig. »Ich hab jetzt einen Bleistiftspitzer, ein amerikanisches Patent, prima, Mensch«, erklärte er Heinrich. Er beschaute aus seinen vorquellenden Augen träumerisch die Spitze des Bleistifts, die lang und scharf zulief. »Ein Messer sollte man so einem
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