Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]
Schwein in den Ranzen rennen«, erklärte er plötzlich, wild. Heinrich Lavendel saß auf der Hofmauer, schnellte abwechselnd auf gymnastische Art die Beine vor. Jetzt hielt er ein. »Ein Messer in den Ranzen? Wem?« fragte er und schaute verwundert zu Rittersteg auf. »Dem Verräter natürlich, diesem Karper, der dem Führer in den Rücken fällt.« Heinrich sagte nichts, verzog kaum merklich die sehr roten Lippen. Klein, stämmig, die Wangen zart und bräunlich, saß er vor dem bläßlichen Langen Lulatsch. Der, obwohl kein Menschenkenner, las alles, was sein gehaßter, bewunderter Freundfeind dachte, Unglaube, Verachtung für den Großsprecher, Ekel, aus seiner kleinen, kaum wahrnehmbaren Geste. Heinrich nahm jetzt endlich den Bleistift, drehte ordentlich die Hülse über die Spitze, steckte ihn ein. »Der, den ich dir lieh«, sagte er, »hat einen Sechser gekostet. Deiner kostet mindestens zwei Groschen, Mensch. Ich geb dir aber die fünfzehn Pfennig nicht heraus.« Nein, so abtun ließ sich der Junge Adler Werner Rittersteg nicht. »Du wirst es erleben, Mensch«, sagte er dringlich, unglücklich, um Glauben ringend, »ich renn ihm das Messer in den Ranzen.« Und, da Heinrich sich abwandte, achselzuckend, fügte er mit einem fatalen Versuch zu scherzen hinzu: »Wenn ich es tue, krieg ich dann meinefünfzehn Pfennig?« – »Du bist ja verrückt, Mensch«, sagte Heinrich.
Es läutete. Die Pause war zu Ende. Pedell Mellenthin überwachte, wie seine Tochter die Brötchen zusammenpackte, die während der Schulpause nicht verkauft worden waren, übersah geflissentlich den Schüler Oppermann, nickte dem Schüler Rittersteg freundlich zu, stand stramm vor Oberlehrer Vogelsang. Der Unterricht ging weiter.
Zwei Tage später stand in den Zeitungen, Redakteur Richard Karper vom »Tagesanzeiger« sei auf der Redaktion von einem rabiaten jungen Mann niedergestochen worden. Der junge Mensch, ein gewisser Werner Rittersteg, Schüler der Unterprima des Königin-Luise-Gymnasiums, erkläre, er habe dem Redakteur Vorhaltungen wegen seines bekannten Artikels über den Führer gemacht und sei von diesem angepackt und gewürgt worden, so daß ihm nichts übriggeblieben sei, als, in Notwehr, sein Messer zu gebrauchen. Rittersteg, berichteten die Blätter, sei nach eingehender Vernehmung, da kein Fluchtverdacht vorliege, freigelassen worden.
Vater Rittersteg, ein wohlhabender Kaufmann, der vier Ehrenämter bekleidete, knallte seinem Sohn im ersten Impuls eine Ohrfeige. Mutter Rittersteg heulte, welche Schande der Junge über sie bringe. Aber sehr bald stellte sich heraus, daß der Lange Lulatsch kein Lump, sondern ein Held war. Die völkischen Zeitungen brachten sein Bild. Sie schrieben, wenn auch die Tat des jungen Mannes nicht bedingungslos zu billigen sei, so sei es doch verständlich, daß die deutsche Jugend sich durch die dreisten Angriffe des Verstorbenen zu Taten habe hinreißen lassen. Vater Ritterstegs Bekannte riefen an, gratulierten. Man trug ihm zwei weitere Ehrenämter an. Nach vierundzwanzig Stunden hatten die Eltern Rittersteg vergessen, wie sie auf das Geschehene, unmittelbar nachdem es zu ihren Ohren gekommen war, reagiert hatten; auch ihnen war der Junge jetzt ein Held. Nach achtundvierzig Stunden hätte Vater Rittersteg guten Gewissens beschwörenkönnen, von seinem heldischen Sohn habe er nie anderes als eine solche vaterländische Tat erwartet. Trotz der schlechten Zeiten raffte er sich zu dem Versprechen auf, dem Jungen im Frühjahr an seinem Ruderboot einen Außenbordmotor anbringen zu lassen.
Dr. Vogelsang war von tiefer Freude erfüllt. Hier zeigte es sich, wie empfänglich deutsche Jugend war, wenn man sie nur zu nehmen wußte. Eine leise Andeutung genügte, sie auf den rechten Weg zu leiten. Werner Rittersteg war einer jener Jünglinge, die sicherlich alles Schlechte, Verrottete, Zersetzende aus Deutschland ausmerzen werden. »Was euch nicht zugehört, / Müsset ihr meiden, / Was euch das Innre stört, / Dürft ihr nicht leiden.« Diese Jugend verstand, ihren Goethe in die Tat umzusetzen. Er, Bernd Vogelsang, war in seinem kleinen Bereich zum Ziele gelangt, wie der Führer in seinem großen. Achtzehn von den sechsundzwanzig Schülern der Unterprima waren nach der Tat Werner Ritterstegs erklärt völkisch; neben Werner Rittersteg und Max Weber fand Dr. Vogelsang jetzt vier andere würdig, in die Reihen der Jungen Adler einzutreten.
Im übrigen veranlaßte ihn gerade der Erfolg zu doppelter Vorsicht.
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