Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]
er sich: »Los, Mensch.« Allein dann siegte doch wieder die Vernunft. Er setzte sich nicht hin, er schrieb nicht, er schleppte sein besseres Wissen unbehaglich und schweigsam mit sich herum.
Werner Rittersteg fand sich nicht schweigend mit der Niederlage ab, die Heinrich ihm beigebracht hatte. Konnte er ihn nicht treffen, so wollte er es wenigstens diesem Oppermann zeigen. Er richtete einen Brief an Fritz Ladewig, den Präses des Fußballklubs. Beantragte nochmals, diesmal schriftlich,Berthold Oppermann wegen seiner bekannten Schmähung des Deutschtums aus dem Klub auszuschließen.
Neun Jungens waren im Präsidium des Klubs, unter ihnen Heinrich. Unbehaglich gab Fritz Ladewig den Antrag Ritterstegs bekannt. Die Jungens sahen einander an, keiner sagte was. Berthold war ein guter Kamerad. Warum soll man etwas unternehmen, bevor Rektor und Professorenkollegium sich erklären? Andernteils war Werner Rittersteg der Held der Anstalt, man konnte einen Antrag von ihm nicht ohne weiteres ablehnen.
»Na, was meint ihr?« sagte nach einer Weile Fritz Ladewig. »Das wißt ihr«, sagte Heinrich Lavendel, gradaus vor sich hin, ohne einen anzuschauen, blaß und entschlossen, »daß ich natürlich auch austrete, wenn Berthold geht.« Ein Match mit der Mannschaft des Fichte-Gymnasiums stand bevor, Heinrich Lavendel war ein unersetzlicher Torwart. »Kommt gar nicht in Frage«, erklärte man und vertagte die Entscheidung über den Antrag Werner Ritterstegs.
Fritz Ladewig erstattete Rittersteg Bericht. Erklärte, der Klub erlaube sich die Anfrage, ob er trotz Heinrichs Drohungen seinen Antrag aufrechterhalten wolle. Werner Rittersteg hatte sich durch seine Mitgliedschaft bei den Jungen Adlern angewöhnt, auf unbequeme Fragen geheimnisvolle, zweideutige Antworten zu geben. »Darüber muß ich mich mit mir selber beraten«, sagte er.
Nochmals trat er an Heinrich heran: »Ich mache dir einen Vorschlag. Ich bekenne vor jedermann, daß ich dein Freund bin. Ich erkläre mich mit dir solidarisch. Das heißt etwas, Mensch, unter den heutigen Verhältnissen. Aber ich kann’s mir leisten. Du mußt mir nur eines versprechen: du enthältst dich im Klub der Stimme, und du bleibst drin. Wenn du nett sein willst, gibst du mir die fünfzehn Pfennig. Sag: Abgemacht. So eine Gelegenheit kommt nicht wieder«, versuchte er zu scherzen. »Oder sag: Okay«, lächelte er, bettelte er. Heinrich schaute ihn auf und ab, mit jener sachlichen Neugier, mit der man im Zoologischen Garten Tiere betrachtet.Drehte sich um. »Versteh mich doch, Mensch«, sagte hastig, mit blassen Lippen, Werner Rittersteg. »Du brauchst mir die fünfzehn Pfennig natürlich nicht zu geben, das war ein Witz. Und im Klub kannst du auch dagegen stimmen. Aber du trittst nicht aus. Das wenigstens versprichst du mir.« Heinrich kehrte sich ab, wortlos. Der lange Rittersteg rührte dem Kleineren, Stämmigen die Schultern, bettelte weiter: »Nimm Vernunft an. Tritt nicht aus. Bleib.«
Heinrich schüttelte die langen, blassen Hände von seinen Schultern.
Rektor François hielt sich immer länger in seinem Amtszimmer auf; denn seine Privatwohnung war erfüllt von den Klagen und Beschwörungen Donnerwölkchens. Aber auch die Einsamkeit seines großen Amtszimmers wurde immer trüber. Was nützte es, daß sein Buch »Der Einfluß des antiken Hexameters auf die Wortgebung Klopstocks« gedieh, nun er erkennen mußte, daß das Werk seines Lebens verloren war. In hilflosem Kummer schaute er zu, wie schnell der breit einbrechende Nationalismus seine Schüler umnebelte. Er hat sich treulich bemüht, die Fackel weiterzugeben, aber jetzt drang Nacht immer tiefer herein und verschlang sein bißchen Licht. Barbarei, wie sie Deutschland seit dem Dreißigjährigen Krieg nicht erlebt hatte, breitete sich über das Reich. Der Landsknecht regierte; sein wüstes Gegröl deckte die holden Stimmen der deutschen Dichter zu.
Mit behutsamen Fingern, die Berührung des Papiers schon war ihm widerwärtig, blätterte Rektor François in dem »Nationalsozialistischen Liederschatz«, dem offiziellen Liederbuch der Völkischen, dessen Verse jetzt auf Betreiben Vogelsangs seine Jungen auswendig lernen mußten. Was für Verse. »Und wenn die Handgranate kracht, / das Herz im Leibe lacht«, und: »Wenn’s Judenblut vom Messer spritzt, / dann geht’s noch mal so gut.« In den Schulsälen, in denen vorher die Strophen Goethes und Heines, die gebändigten Sätze Kleistscher Prosa erklungen waren, rülpste man jetzt
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