Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]
Auch sonst lernte Bernd Vogelsangviel in diesen Wochen. Vierzehn Jahre hatte der Führer kämpfen müssen, ehe er den Sieg errang. Jetzt, als Kanzler, krähte er nicht Triumph, er mäßigte sich, er wartete ab, bis er den Gegner für immer erledigen konnte. Bernd Vogelsang ahmte in seinem Bereich die Taktik des Führers nach. Er konnte warten wie dieser.
Bei aller Mäßigung seines Auftretens hatte er jetzt schon erreicht, daß in der Unterprima des Königin-Luise-Gymnasiums der Boden bereitet war für die Zeit, da echt deutscher Geist dort endgültig die Macht ergreifen sollte. Schon kannte jeder Schüler das Gedicht jenes Heinrich von Kleist »Germania an ihre Kinder« auswendig, und es hob Bernd Vogelsang das Herz, wenn er seine Jungens die großen, haßvollen Verse im Chor sprechen hörte. Neben der klassischen kannte man auch die heutige Hymne der Völkischen auswendig: das Horst-Wessel-Lied.
Rektor François saß müde und traurig in seinem großen Amtszimmer zwischen den Büsten Voltaires und Friedrichs des Großen. Vom Geiste Voltaires war kein Hauch mehr am Königin-Luise-Gymnasium zu spüren und vom Geist Friedrichs des Großen nur mehr das Üble. Selten noch, daß der eine oder andere seiner Lehrer es wagte, sich zu jenem Liberalismus zu bekennen, der vordem als die beste Tugend seiner Schule galt. Keine Rede mehr davon, daß Vogelsang versetzt werden könnte. Vielmehr mußte François tatenlos zuschauen, wie dieser Mann die bildsamen Gemüter seiner Schüler für immer verdarb.
Dabei verhielt sich Vogelsang höflich und korrekt, er gab keinen Grund zur Klage. Vermied es zum Beispiel, den leidigen Fall Oppermann zu forcieren. Alle acht Tage höchstens, gelegentlich, am Schluß einer Unterredung über andere Gegenstände, mit unheimlich freundlichem Lächeln, das die einzelnen Teile seines Gesichtes noch schärfer zertrennte, sagte er in seinem quäkenden Ostpreußisch: »Ceterum censeo discipulum Oppermann esse castigandum.« Rektor François wurde es kalt vor dem Witz seines Oberlehrers. Auch erzwang sich ein Lächeln ab unter dem gepflegten, weißen Knebelbart. Hilflos durch seine scharfen, randlosen Brillengläser starrte er auf den kalt, höflich und überlegen grinsenden Mann; ihm war, als halte der einen Schuldschein in seinen rötlichen, mit blonden Härchen überflaumten Händen, einen äußerst unangenehmen Schuldschein. »Gewiß, Herr Kollege«, erklärte er hastig. »Ich habe die Sache nicht aus den Augen verloren.« Und Oberlehrer Vogelsang bestand nicht weiter auf seiner Forderung, er lächelte nur anerkennend. »Schön, schön«, sagte er und verabschiedete sich.
Sah Rektor François den Schüler Oppermann, dann unterließ er es nie, ein paar freundliche Worte mit ihm zu sprechen. Berthold war in diesen letzten Wochen auffallend erwachsener geworden. Sein Gesicht war nachdenklicher, weniger weich, männlicher; die kühnen, grauen Augen schauten beschäftigt, vergrübelt unter der eigenwilligen Stirn mit den schwarzen Haaren. Die Frauen begannen, ihm nachzuschauen. Über seine eigenen Angelegenheiten sprach er immer seltener. Auch Rektor François, trotzdem der Junge wußte, daß er ihm freund sei, konnte ihn nicht dazu bewegen, sich ihm anzuvertrauen.
Übrigens schikanierte Dr. Vogelsang Berthold nicht. Er beschäftigte sich mit ihm nicht mehr und nicht weniger als mit den andern und dachte nicht daran, seine Leistungen zu verkleinern. Gelegentlich, eine kluge Antwort Bertholds quittierend, grinste er unter seinem dichten, blonden Schnurrbärtchen höflich Beifall: »Ein Köpfchen, Oppermann. Sie sind ein Köpfchen.« Ein anderes Mal, Bertholds flüssigen Stil lobend, merkte er an: »Ein bißchen zu flüssig, zu glatt. Zuwenig Widerstände, zuwenig Kanten. Mehr Härte, Oppermann. ›Landgraf, werde hart.‹« Berthold war gerecht genug, dieses Urteil als begründet zu empfinden.
Heinrich Lavendel sah mit Besorgnis die Ruhe Vogelsangs. Ein Vogelsang läßt eine Chose wie die mit Hermann dem Deutschen nicht begraben sein. Je länger er zögert, so gefährlicher. »Der lauert nur«, sagte Heinrich zu Berthold, »bisdas Beefsteak ganz durch ist. Ich kenne doch das Schwein. Ich an deiner Stelle würde nicht warten, bis er auf mich zukommt. Go ahead, Berthold. Stell ihn. Mit Hechtsprung hinein.« Berthold zuckte nur die Schultern, zugesperrt, abweisend.
Berthold sah jetzt viel erwachsener aus als Heinrich. Großartig sah er aus. Er war überhaupt ein großartiger Bursche. Er konnte einem
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