Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]
Brief. »Ja, natürlich«, sagte Gustav, »der Brief vom letzten Dezember 77. Er ist im Besitz der Wolfenbüttler Bibliothek. Ein schöner Brief. Ein Faksimile ist bei Düntzer abgedruckt.« Er zeigte ihm den Brief.
Berthold las: »Mein lieber Eschenburg, ich ergreife den Augenblick, da meine Frau ganz ohne Besonnenheit liegt, um Ihnen für Ihren gütigen Anteil zu danken. Meine Freude war nur kurz: Und ich verlor ihn so ungern, diesen Sohn! denn er hatte so viel Verstand! so viel Verstand! – Glauben Sie nicht, daß die wenigen Stunden meiner Vaterschaft mich schon zu so einem Affen von Vater gemacht haben! Ich weiß, was ich sage. – War es nicht Verstand, daß man ihn mit eisern Zangen auf die Welt ziehen mußte? daß er so bald Unrat merkte? – War es nicht Verstand, daß er die erste Gelegenheit ergriff, sich wieder davon zu machen? – Freilich zerrt mir der kleine Ruschelkopf auch die Mutter mit fort. – Denn noch ist wenig Hoffnung, daß ich sie behalten werde. – Ich wollte es auch einmal so gut haben wie andere Menschen. Aber es ist mir schlecht bekommen. Lessing.«
Berthold blätterte in der Briefsammlung weiter, las einen Brief, geschrieben eine Woche später: »Mein lieber Eschenburg, ich kann mich kaum erinnern, was für ein tragischer Brief das kann gewesen sein, den ich Ihnen soll geschrieben haben. Ich schäme mich herzlich, wenn er das geringste von Verzweiflung verrät … Die Hoffnung zur Besserung meiner Frau ist seit einigen Tagen wieder sehr gefallen … Ich danke Ihnen für die Abschrift des Goezischen Aufsatzes. Diese Materien sind itzt wahrlich die einzigen, die mich zerstreuen können … Lessing.«
Und dann war da ein Brief, wieder drei Tage später: »Lieber Eschenburg, meine Frau ist tot: und diese Erfahrung habe ichnun auch gemacht. Ich freue mich, daß mir viel dergleichen Erfahrungen nicht mehr übrig sein können zu machen; und bin ganz leicht … Ich muß nur wieder anfangen, meinen Weg allein so fort zu duseln. Haben Sie … die Güte, liebster Freund, und lassen Sie mir aus Ihrem großen Johnson den ganzen Artikel ›Evidence‹ mit allen Beweisstellen abschreiben.«
Berthold las. Es war ein bißchen seltsam, daß Rektor François ihm gerade diesen Brief von der Zangengeburt zur Lektüre empfahl. Aber angerührt war Berthold. Daß dieser Lessing am Sterbebett seiner offenbar sehr geliebten Frau seinem Freunde vom Absterben dieser Frau berichtete und ihn, eh die Tinte trocken war, ersuchte, ihm Literatur für seine Arbeit zu schicken, das war schon allerhand. Leicht hat er es nicht gehabt, dieser Schriftsteller G. E. Lessing. Als er seinen »Nathan« schrieb, sein Bekenntnis für die Emanzipation der Juden, erklärten die damaligen Völkischen, er sei dafür hoch bezahlt worden. Immerhin hat niemand von ihm verlangt, daß er Abbitte tue und widerrufe. Es ist in den hundertfünfzig Jahren seither erheblich finsterer geworden in Deutschland.
Berthold sah die langen, hohen Reihen der Bücher auf und nieder. Dies alles war Deutschland. Und die Leute, die diese Bücher lasen, waren Deutschland. Die Arbeiter, die in ihrer freien Zeit sich in ihre Arbeiterhochschulen setzten und ihren schwerverständlichen Karl Marx büffelten, waren Deutschland. Und das Philharmonische Orchester war Deutschland. Und auch das Autorennen auf der Avus und die Arbeitersportvereine waren Deutschland. Aber, leider, auch das Nationalsozialistische Liederbuch war Deutschland und das Pack in den braunen Uniformen. Soll wirklich dieser Unsinn das andere fressen? Will man wirklich die Irrenhäusler regieren lassen, statt sie einzusperren? Deutschland, mein Deutschland. Es packte ihn plötzlich. Er hatte gelernt, sich zu beherrschen, er hielt auch diesmal an sich. Aber blaß und rot wurde er doch, so daß Onkel Gustav auf ihn zutrat, ihm diekräftige, behaarte Hand auf die Schulter legte und sagte: »Kopf hoch, mein Junge. Unter 29 minus fällt in dieser Gegend das Thermometer nicht.«
Edgar Oppermann, im Chefzimmer der Laryngologischen Station der Städtischen Klinik, unterschrieb, ohne sie zu lesen, eine Reihe Briefe, die Schwester Helene ihm hingehalten hatte. »So, Schwester Helene«, sagte er, »und jetzt darf ich noch auf einen Sprung ins Labor.« Er sah überarbeitet aus, gehetzt, Schwester Helene hätte ihm gern die Viertelstunde Ruhe im Laboratorium gegönnt. Aber es ging nicht, die Situation war zu brenzlig. »Ja mein«, hatte Geheimrat Lorenz zu ihr gesagt, »jetzt sollte halt eine resolute
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