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Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Titel: Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lion Feucht Wanger
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dieseGemeinheiten. Das Gesicht des Rektors verzog sich vor Ekel. Er wußte nun, wie es war, als die eindringenden Barbaren die Tempel antiker Städte zu Ställen für ihre Pferde machten.
    Gerne einmal hätte er in der Max-Reger-Straße bei seinem Freunde Gustav Trost und Erholung gesucht. Aber auch das war ihm verwehrt. Seit der Unterzeichnung jenes Manifests gegen die Barbarei brachten die Zeitungen der Barbaren jeden zweiten oder dritten Tag wüste Angriffe auf Gustav, er war gebrandmarkt, und Donnerwölkchen hatte Rektor François streng verboten, sich bei ihm sehen zu lassen. Die Lehrer an seiner Anstalt, die seines Geistes waren, ihm freund, wagten, von allen Seiten bespitzelt, kaum mehr ein freies Wort. So saß der alternde Mann zumeist allein in seinem großen Arbeitszimmer, sein Werk versank vor ihm, seine Freunde versanken, sein Deutschland versank, und er wußte, bald werde auch an dieser seiner letzten Zufluchtsstätte für ihn so wenig Raum mehr sein wie für die Voltairebüste.
    In diesen Tagen traf Rektor François den Schüler Oppermann auf dem langen Korridor zum Physiksaal. Berthold ging langsam; er sah auffallend erwachsen aus. Es fiel Rektor François auf, daß der Junge, trotzdem er viel Sport trieb, begann, die Füße einwärts zu setzen wie sein Vater. Er sah die kühnen, grauen, traurigen Augen Bertholds, sein beschäftigtes Gesicht. Er dachte daran, daß Donnerwölkchen ihn bestimmt getadelt hätte, aber er konnte nicht anders, er hielt ihn an. Er wußte nicht recht, was zu sagen; schließlich, mit seiner milden, jetzt kummervollen Stimme, brachte er heraus: »Na, Oppermann, was lesen Sie denn jetzt in der Klasse?« Berthold, und in seiner Stimme war fast mehr Resignation als Bitterkeit, erwiderte: »Den vaterländischen Dichter Ernst Moritz Arndt und den vaterländischen Dichter Theodor Körner und immer mal wieder den ›Nationalsozialistischen Liederschatz‹, Herr Rektor.« – »Hm, so«, machte Rektor François, sah sich um, und da Pedell Mellenthin nicht zu sehen war, auch kein feindlicher Oberlehrer, sondern nurzwei kleine Jungen aus der Quinta, schluckte er und sagte: »Sehen Sie, lieber Oppermann, das ist nun so. Ulysses ist neugierig. Ulysses ist abenteuerlustig, Ulysses gerät in die Höhle Polyphems. Das erlebt jede Epoche. Aber jede Epoche erlebt auch, daß am Ende Ulysses den Polyphem besiegt. Nur dauert es manchmal etwas lange. Ich werde es höchstwahrscheinlich nicht mehr erleben, aber Sie werden es erleben.« Der Schüler Oppermann schaute seinen Rektor an, eigentlich schaute der Siebzehnjährige erwachsener aus als der Achtundfünfzigjährige, und er sagte: »Sie sind sehr freundlich, Herr Rektor.« Diese einfachen Worte schienen Rektor François tröstlich, sie richteten ihn geradezu auf. »Ja, was ich Ihnen eigentlich sagen wollte, Oppermann«, begann er von neuem, eifriger als zuvor. »Es gibt jetzt eine Volksausgabe von Döblins ›Giganten‹. Das Buch als Ganzes ist etwas barock, aber es sind zwei Fabeln darin, die gehören zu den besten Seiten deutscher Prosa. Man müßte sie in alle deutschen Schullesebücher aufnehmen. Lesen Sie sie, bitte, lieber Oppermann. Es ist eine Fabel vom Mond und eine vom Hund und dem Löwen. Es wird Ihnen eine Freude sein, daß auch in dieser Zeit in Deutschland solche Prosa geschrieben wird.« Der Schüler Oppermann sah seinen Rektor aufmerksam an; dann, mit einer sonderbaren Abwesenheit in seiner tiefen, frühreifen Stimme, erwiderte er: »Ich danke Ihnen, Herr Rektor. Ich werde die Seiten lesen.« Vielleicht war es die dunkle Ruhe dieser Stimme, die bewirkte, daß Rektor François nicht mehr an sich hielt, sondern ganz nah an den Schüler Oppermann herantrat und ihm, der größer war als er selber, beide Hände auf die Schultern legte. »Verlieren Sie den Mut nicht, Oppermann«, sagte er. »Bitte, verlieren Sie mir den Mut nicht. Wir haben alle unser Teil zu tragen. Je besser einer ist, so schwerer. Lassen Sie sich, bitte, von Ihrem Onkel Gustav den Brief zeigen, den Lessing nach der Geburt seines Sohnes geschrieben hat, es war im Jahr 1777, glaube ich, oder 78, Ihr Onkel Gustav weiß bestimmt, was ich meine. Beißen Sie die Zähne zusammen, Oppermann, und halten Sie aus.«
    Wenngleich Rektor François nicht eben das war, was Berthold sich unter einem Mann vorstellte, so behütete ihn diese Unterredung doch für einige Tage vor allzu großer Bitterkeit. An seinem nächsten freien Nachmittag ging er zu Onkel Gustav und bat ihn um jenen

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