Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]
einen ungeheuren Vorteil vor uns voraushaben: ihren unbedingten Mangel an Fairneß. Darum sind sie ja heute an der Macht. Sie haben immer Mittel angewandt von solcher Primitivität, daß die andern sie einfach nicht für möglich hielten, weil sie in keinem andern Lande möglich gewesen wären. Sie haben etwa die gesamten Führer der Linken von einiger Bedeutung einfach abgeschossen, einen nach dem andern. Ungestraft. Um zur Sache zurückzukommen, glauben Sie mir, Edgar, Sie finden heute in Deutschland keinen Richter, der die Artikelschreiber verurteilt. Und nach den Wahlen werden Sie in Deutschland kein Gericht finden, das die Klage auch nur zuläßt.«
»Ich glaube das nicht, ich glaube das nicht«, sagte Edgar heftig und schlug auf den Tisch; aber es klang wie ein Hilferuf.
Mühlheim zuckte die Achseln. Holte eine Vollmacht, bat Edgar, zu unterzeichnen. »Die Klage geht morgen ab«, sagte er. »Aber ich wollte, Sie sparten sich die Enttäuschung.«
»Wie sollen meine Kranken Zutrauen zu mir haben, wenn solche Dinge gegen mich gesagt werden dürfen?« grollte Edgar. »Wer heißt Sie denn Ihre Kranken behandeln?« fragte bitter Mühlheim zurück. »Wer sagt Ihnen denn, daß dieser Staat das will?« – »Aber die Richter«, ereiferte sich Edgar, fast kindlich erstaunt, »sind doch akademisch gebildet; sie wissen doch, daß das alles Unsinn ist. Oder glauben sie vielleicht wirklich, daß ich Christenkinder schlachte?« – »Sie reden sich ein«, erwiderte Mühlheim, und der Grimm verzerrte grotesk sein kleines, listiges Gesicht, »daß Sie, etwa im Osten geboren, Ihrem Blut und Ihrer Veranlagung nach sehr wohl dazu imstande wären.«
Edgar ging von der Unterredung mit Mühlheim völlig ausgeleert. Hatte sich die Welt in wenigen Wochen so verändert? Oder war er sechsundvierzig Jahre alt geworden und hatte von der Welt ringsum so wenig begriffen?
Den Tag darauf ließ er sich in ein längeres Gespräch mit seiner Tochter Ruth ein. Ruth war gewohnt, daß sich ihr Vater auf gutmütige, liebenswürdige Art über sie lustig machte. Er tat das auch jetzt, aber es war dennoch anders, und das Mädchen fühlte rasch, daß seine Sicherheit erschüttert war. So genau sie wußte, daß er von der Sinnlosigkeit ihres Nationalismus sozusagen naturwissenschaftlich überzeugt war und daß sie ihm nur ein Schauspiel bot, sie hatte es sich trotzdem nicht versagen können, ihre Ideen immer wieder mit der gleichen Wildheit zu verteidigen wie am ersten Tag. Jetzt, merkend, daß er gelockert war, wurde auch sie sanfter. Gina Oppermann saß stumm dabei. Sie war eine törichte, kleine Frau, sie verstand nichts von dem, was gesprochen wurde. Aber sie wußte Bescheid um Ton und Haltung ihres Mannes und ihrerTochter, und sie sah verschüchtert die zaghaften Versuche Edgars, bei seiner Tochter in die Schule zu gehen.
Noch in der gleichen Woche setzte der alte Geheimrat Lorenz Edgar auseinander, daß Professor Varhuus nun endgültig erklärt habe, er könne die Kandidatur des Dr. Jacoby nicht unterstützen. Geheimrat Lorenz gab sich während dieser Unterredung besonders barsch, er war ganz der alte »Fürchtegott«, wie seine Studenten ihn kannten. Edgar war weiser geworden in diesen letzten Tagen, er sah durch die Barschheit des Mannes seine schmerzliche Verlegenheit.
»Geben Sie mir einen Rat, Kollege«, grollte der Alte, und die Worte polterten wie Felsbrocken aus dem goldenen Mund. »Was soll ich machen?« Er stieß den mächtigen, weißbehaarten, kupferroten Schädel gegen Edgar vor. Ich kann natürlich darauf bestehen, daß es der Jacoby wird. Er wird’s dann auch. Aber dann streichen uns die Arschlöcher den Posten für Ihr Labor. Geben Sie mir einen Rat.«
Edgar beschaute seine Hände. »Die Behandlung dieses Falles scheint mir gegeben, Herr Geheimrat«, sagte er, und seine Stimme klang frisch und entschieden, wie wenn er einem Patienten den operativen Eingriff vorschlug. »Sie ziehen die Kandidatur Jacoby zurück, und ich ziehe meine Klage gegen die Arschlöcher zurück, um Ihre Ausdrucksweise zu plagiieren.« Er lachte, er schien besonders munter.
Der alte Lorenz fühlte sich verflucht ungemütlich. Dieser Edgar Oppermann war ein ausgezeichneter Wissenschaftler und ihm sympathisch. Er hatte ihm ein Versprechen gegeben. Der alte Lorenz kann alles, macht alles, fürchtet Gott und sonst nichts auf der Welt. Und jetzt auf einmal, das erstemal in seinem Leben, fürchtet er die Arschlöcher, die ihm im Etat herumstreichen, und
Weitere Kostenlose Bücher