Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]
Soldat oder gar ein völkischer Offizier von ferne erscheine. Wenn einer schief zu schauen wagt, schon hat er eins in der Fresse. Ihm, Zarnke, wird es eine besondere Freude sein, sich das Schwein nebenan vorzunehmen. Dem wird er eine Sonderbelehrung zuteil werden lassen, und nach der Belehrung kann der sich seine Knochen einzeln aus dem Rinnstein auflesen. Unbehaglich hörte sich Herr Wolfsohn diese Reden mit an. Klein, trotz der neuen Fassade keineswegs flott, saß er in seinem Ohrensessel, wagte nicht, zu mucken. Brachte die Kinder ins Schlafzimmer, starrte auf den feuchten Fleck, stellte das Radio an; vielleicht gab es da etwas sehr Lautes, einen Militärmarsch oder eine völkische Weise, die die Ankündigungen des Nachbarn übertönte.
Manchmal, wenn die Musik sehr kriegerisch war, malte er sich aus, wie bei einer Zeitenwende, die nicht lange auf sich warten lassen kann, er es Herrn Zarnke geben wird. Auf der Treppe stellen wird er ihn. Er wird auf der obern Stufe stehen und Herr Zarnke auf der untern: »Was bilden Sie sich denn ein, Sie Rotzlümmel?« wird er sagen. »Wie kommen Sie mir denn vor? Sie nennen mich ein Schwein, Herr? Ist ja unerhört. Sie bilden sich ein, Sie sind was Besseres, weil ich Israelit hin? Das wäre ja gelacht. Meine Väter haben schon organisiert und industrialisiert und überhaupt zivilisiert, wie Ihre geschätzten Herren Ahnen noch als Affen im Urwald herumkletterten. Verstanden, Mensch? Und jetzt abgetreten.« Aus allen Türen werden Leute herauskommen und zuhören, Herr Rothbüchner, Frau Hoppegart, Herr Winkler, Frau Josephsohn, und alle werden sich freuen über den Schneid, mit dem er dem Kerl in seinen hohen Stiefeln den Marsch bläst.Ein Jontef wird es ihnen sein, vor allem Frau Josephsohn natürlich. Und wenn dann Herr Zarnke begossen abzieht, dann wird er ihm einen Tritt in den Hintern geben, daß er vollends die Treppe hinunterfliegt. Grimmig malt sich Herr Wolfsohn aus, wie Herr Zarnke, unten angelangt, mühsam wieder aufsteht, einen seiner großen Stiefel hat er während des Sturzes verloren, und wie er sich seine braune Jacke abklopft und klein und häßlich abzieht. Herr Wolfsohn lächelt breit während dieser süßen Phantasie, so daß seine weiß und goldenen Zähne bloßliegen. Leise, doch wohlartikuliert vor sich hin spricht er die großartigen Sätze, mit denen er den andern ein für allemal erledigt. Aber dann ist die Musik im Radio zu Ende, man hört wieder die Stimme Herrn Zarnkes, und Herr Wolfsohn sinkt zusammen in seinem Ohrensessel und erlischt.
Ach, es war aus mit der Geborgenheit in seinem geliebten Häuserblock an der Friedrich-Karl-Straße. »My home is my castle« war eine akademische Schulerinnerung jetzt, ohne praktische Bedeutung. Wohl waren noch die zweihundertsiebzig Wohnungen einander gleich wie eine Sardinenbüchse der andern, aber mit Herrn Wolfsohn war eine unverständliche Veränderung vorgegangen. Kaum sechs Wochen, kaum vier Wochen war es her, da war er einer von den zweihundertsiebzig Haushaltsvorständen gewesen, hatte die gleichen Pflichten gehabt wie die andern, die gleichen Meinungen, die gleichen Freuden, die gleichen Sorgen, die gleichen Rechte, ein friedsamer Steuerzahler, der von niemand was wollte und dem keiner was anhatte. Jetzt waren die andern geblieben, was sie waren, aber er – er las es an allen Ecken, hörte es auf allen Straßen –, er war plötzlich ein reißender Wolf geworden, der das Vaterland in den Untergang getrieben hat. Wieso? Warum? Herr Wolfsohn saß, grübelte, verstand es nicht.
Am besten war es noch im Geschäft. Aber auch dort war es nicht mehr wie früher. Es gab viel Betrieb, man hatte zu tun. Aber sowie die hastige Tätigkeit für eine kurze Weileaussetzte, dann stand man herum, trüben, leeren Gesichts. Selbst der quicke Prokurist Siegfried Brieger war nicht mehr so quick wie früher; man sah ihm an, daß er die Sechzig hinter sich hatte.
Und dann kam ein Erlebnis, eine Veränderung, die Herrn Wolfsohn vielleicht noch tiefer traf als jeder andre Wechsel. Der Chef Martin Oppermann war ein wohlwollender Herr und hatte Herz für seine Angestellten, aber innerlich war er hochmütig, das war ausgemacht. In diesen Tagen nun kam zufällig einmal Martin Oppermann in die Filiale an der Potsdamer Straße und war in der Nähe, als Herr Wolfsohn, ein sehr seltenes Ereignis, einen Kunden abziehen lassen mußte, ohne daß der gekauft hätte. Der Kunde war ein unsympathischer Bursche gewesen, einer von denen
Weitere Kostenlose Bücher