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Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Titel: Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lion Feucht Wanger
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von heller Wut. »Ich denke nicht daran«, schreit er und steht auf. »Was bildet sich denn dieses Schwein ein? Glaubt er, ich halte ihm den Kopf hin, daß er draufspuckt? Das wäre ja gelacht. Ich denke nicht daran.«
    Jacques und Klara schauten still auf den tobenden Mann. Ja, Jacques schlug seine blauen Augen ganz auf, aufmerksamund voll Freundschaft betrachtete er Martin, und es war keine Ironie mehr in seiner heiseren Stimme, sondern nur mehr das gute Zureden eines älteren, erfahrenen Freundes. »Meckern Sie sich ruhig aus, Martin«, sagte er. »Meckern tut gut. Aber ich glaube, wenn Sie sich’s beschlafen, werden Sie einsehen, daß Sie nicht darum herumkommen. Ich kann mir auch was Schöneres vorstellen als eine Unterhaltung mit Herrn Wels. Aber den Laden zumachen ist schlimmer. Überschlafen Sie sich’s, und dann gehen Sie hin zu Heinrich Wels. Gehen Sie möglichst bald. Am besten morgen. Am besten morgen vormittag. Was immer Sie von Wels erreichen, ist Gewinn. Und je eher Sie gehen, um so mehr können Sie erreichen.«
    Martin hatte sich wieder gesetzt. »Ich denke nicht daran«, wiederholte er finster, aber seine Stimme klang jetzt nach dem Ausbruch auffallend leise.
    »Go ahead, Martin«, sagte plötzlich Jacques, ungewohnt herzlich. »Man muß mit Wels abschließen. Go ahead.« Schimpfen können, dachte Martin, sich austoben können, aber vor diesen beiden war es sinnlos. Sie waren zu vernünftig. Sie schauten einen still und mitleidig an, und im Herzen verachteten sie einen. Er saß finster und gerade in seinem Sessel. Fühlte sich schwach in den Knien. Ein plötzlicher Heißhunger überkam ihn, aber ihn ekelte vor den Brötchen, die vor ihm standen.
    Er erhob sich, schob den schweren Sessel hart zurück. »Ja«, sagte er, »dann werde ich jetzt wohl gehen. Ich danke auch für die Brötchen und für den Wein. Und für den Rat«, fügte er grimmig hinzu.
    »Übrigens«, sagte plötzlich mit ihrer ruhigen, resoluten Stimme Klara, »ich würde den Jungen nicht zwingen, Martin.« Martin schaute verblüfft hoch. »Ich habe einen Fehler gemacht«, fuhr sie fort, »als ich ihm zuriet, sich zu entschuldigen.« Martin verstand nicht. Was denn, wie denn? Welchen Jungen? Berthold? Was denn nun wieder? Es stellte sich heraus, daß er von der ganzen Sache nichts wußte, daß Berthold niemals mit ihm darüber gesprochen hatte. Dies überraschteselbst den nie überraschten Jacques. Er erzählte seinem Schwager die Angelegenheit, behutsam, zart.
    Diesmal bemühte sich Martin nicht weiter um Haltung und Würde. Wütete auch nicht wie ein paar Minuten vorher anläßlich der Sache mit Wels. Die beiden Schläge nacheinander nahmen ihm die Wut, wie sie ihm die Haltung nahmen. Die Oppermanns sollten ausgelöscht werden, sie sollten geschlagen werden, es war so vorbestimmt, es hatte keinen Sinn, dagegen aufzubegehren. Die Angriffe auf Edgar, die Artikel gegen Gustav. Morgen soll er zu Wels gehen, zu dem bornierten, verachteten Heinrich Wels, sich demütigen. Und dann soll sich Berthold demütigen, sein schöner, begabter, geliebter Junge. Berthold hat eine Wahrheit ausgesprochen, aber sie erlauben nicht, daß er eine Wahrheit sagt. Weil er sein, Martin Oppermanns, Sohn ist, muß er sich demütigen und sagen, daß eine Wahrheit eine Lüge sei, weil er es ist, der die Wahrheit gesagt hat.
    Martin saß da, den Kopf gesenkt. Hiob, dachte er. Wie war das mit Hiob? Er war ein Mann aus dem Lande Uz, und darüber macht man dumme Witze. Er war ein geschlagener Mann. Viele Plagen kamen über ihn, sein Geschäft ging zugrunde, seine Kinder gingen zugrunde, er wurde aussätzig, er haderte mit Gott, und dann hat Goethe die ganze Geschichte benützt und das Vorspiel zum Faust daraus gemacht. Ein geschlagener Mann. Es ist vorbestimmt, am Neujahrstag wird es bestimmt, und am Versöhnungstag wird es besiegelt, so hat er es als Kind gelernt. Er hätte vielleicht am Versöhnungstag die Geschäfte geschlossen halten sollen, schon Großvater Immanuel zum Gedächtnis. Brieger war auch immer dafür. Man hat drei oder vier Bibeln im Hause stehen, man sollte sie einmal nachlesen, über Hiob zum Beispiel, aber man kommt nicht dazu. Man kommt zu nichts, man kommt nicht zu seinem Training, man wird ein alter Mann, man wird ein geschlagener Mann, und man kommt zu nichts.
    »Ich würde den Jungen nicht zwingen«, wiederholte Klara. »Lieber würde ich ihn aus der Schule nehmen.« – »Ich werdesehen«, sagte Martin, und es klang abwesend, zerstreut.

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