Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]
wartete, daß Herr Wels ihn empfange.
Martin Oppermann sah es, aber er wollte es nicht sehen, er saß unbewegt.
Er schaute auf seine Uhr. Er dachte, es sei elf Uhr zwanzig, aber es war erst elf Uhr sechzehn. Es war eine schöne, schwere goldene Uhr; er hat sie von Großvater Immanuel bekommen, als er, dreizehnjährig, das erstemal zur Vorlesung aus der Thora aufgerufen wurde. Die Deutschen Möbelwerke haben natürlich eine neue Handelsmarke, das Bild des alten Immanuel ist von den Briefbögen verschwunden. Das neue Emblem ist sehr schön, Klaus Frischlin hat einen erstklassigen Künstler beigebracht. Aber schöne Embleme sind auf den Briefbogen vieler Firmen.
Jetzt muß es elf Uhr fünfundzwanzig sein. Es ist elf Uhr einundzwanzig. Nur gerade sitzen, nur den Kopf nicht sinken lassen. Berthold wird es schlimmer haben. Er, Martin, muß nur dasitzen. Der Junge muß etwas tun. Der Junge muß vor seine Kameraden hintreten und sagen: meine Wahrheit ist eine Lüge, ich habe Lügen gesagt. Elf Uhr dreißig. Martin wendet sich an einen Angestellten und bittet, Herrn Wels daran zu erinnern, daß er warte.
Um elf Uhr vierzig ließ Heinrich Wels ihn vor. Er saß da, in der Uniform eines Sturmbannführers mit Sternen, Schnüren, Schnalle. »Ich habe Sie lange warten lassen, Oppermann«, sagte er. »Politik. Sie verstehen, Oppermann, daß die Politik jetzt vorgeht.« Er hatte ein dünnes, scharfes Lächeln in dem hölzernen, hartfaltigen Gesicht, sprach, der Vorgesetzte zu dem Untergebenen. Er war gewillt, seinen Triumph ganz auszukosten, Martin sah es sogleich. »Oppermann«, hat er gesagt. Es hat Martin Oppermann einen Schlag gegeben. Aber der Schlag hatte eine zweite Wirkung: im gleichen Augenblick kurbelte Martin alles an, was an Händlerinstinkt, an schneller, geschäftlicher Witterung in ihm war. Der da, der bornierte Lump, wollte ihn demütigen. Er mußte es geschehen lassen, mußte die Würde fahrenlassen, die er achtundvierzig Jahre hindurch gewahrt hat. So war es nun einmal in dem Deutschland dieses Februar. Gut, er wird es tun. Aber er wird es sich bezahlen lassen. »Oppermann«, hat das Schwein zu ihm gesagt. Schön, er wird es hinnehmen, wird nicht mehr Herr Oppermann sein. Wird noch mehr hinnehmen. Aber Sie werden es auf der Rechnung finden, Herr Wels.
»Gewiß, Herr Wels«, sagte er höflich.
Er stand noch immer. »Ihr Herr Brieger hat mir von Ihrem Angebot erzählt«, sagte Heinrich Wels zu dem Stehenden. »Mit Ihrem Herrn Brieger läßt sich besser verhandeln als mit Ihnen, Oppermann. Aber ich habe erlebt, daß sich dann später ›Mißverständnisse‹ herausstellten. Ich wollte das vermeiden. Darum hab ich mir Sie kommen lassen. Setzen Sie sich, bitte.«
Martin, gehorsam, setzte sich. »Sie sind sich klar darüber«, fuhr Wels fort, »daß der Name Oppermann und alles, was daran erinnert, zu verschwinden hat. In dem neuen Deutschland kann es keine Oppermann-Möbel mehr geben. Sie begreifen das.«
»Gewiß, Herr Wels«, sagte Martin Oppermann.
Martin Oppermann begriff alles, was Herr Wels von ihm begriffen haben wollte. »Ja, Herr Wels, gewiß, Herr Wels«,kam es immerzu von seinen Lippen, und wenn Herr Wels mit seiner dumpfen Stimme grimmige Witze machte, dann lächelte Martin. Ein einziges Mal kämpfte er längere Zeit. Das war, als Herr Wels verlangte, daß auch das Stammhaus in der Gertraudtenstraße verschwinden müsse und daß die Zentrale der Deutschen Möbelwerke hierher, in sein, Heinrich Wels’, Hauptgeschäft verlegt werden solle. Sehr höflich bat Martin, das Stammhaus auszunehmen. Eine Konkurrenz werde der kleine Laden, den er privat weiterführen wolle, dem mächtigen Betrieb der Vereinigten Deutschen Möbelwerke sowieso nicht machen können. Das hochmütige Pack, dachte Wels. Es war klar, daß Oppermann recht hatte, daß die Fortführung des Hauses in der Gertraudtenstraße wirklich nichts weiter war als ein kostspieliger Luxus, den sich Martin Oppermann persönlich leistete. Aber selbst das wollte ihm Wels nicht gestatten. Er bestand herrisch, und Martin, höflich, gab nicht nach. Bescheiden brachte er ein Argument vor, das Wels einleuchten mußte. Bleibe ein Oppermann-Geschäft erhalten, legte er ihm dar, dann werde die ganze Transaktion bestimmt nicht als Schiebung und erzwungene Maßnahme erscheinen. Nach vielem Hin und Her einigte man sich dahin, daß das Stammhaus bis zum 1. Januar von Gustav und Martin Oppermann privat fortgeführt werden könne, dann aber liquidieren oder in den
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