Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Titel: Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lion Feucht Wanger
Vom Netzwerk:
»Aber zu Wels gehe ich nicht«, beteuerte er grimmig. »Nochmals vielen Dank«, sagte er und versuchte zu lächeln. »Ihr müßt entschuldigen. Es war ein bißchen viel auf einmal.«
    »Er wird natürlich zu Wels gehen«, sagte Jacques Lavendel, als Martin fort war. »Es ist ihnen gut gegangen hier in Deutschland«, fügte er nachdenklich hinzu. »Sie sind nichts gewohnt.« Unten zog ein Trupp völkischer Landsknechte vorbei, von einer Wahlversammlung heimkehrend, sie sangen. »Wenn die Handgranate kracht, / Das Herz im Leibe lacht«, sangen sie. Jacques Lavendel schüttelte den Kopf. »Man kann es auch umdrehen«, meinte er. »Wenn die Handgranate lacht, / Das Herz im Leibe kracht.« Er schloß die Läden, suchte Grammophonplatten hervor, spielte sich Melodien, die er liebte. Der Geruch der Brötchen und des Weins war im Raum. Träumerisch steckte er sich noch eines in den Mund, zerkaute es langsam, trank in sehr kleinen Schlucken. Den breiten, blonden Kopf schräg, die Augen geschlossen, summte er die Platte mit:

    »Sechs Brüder sind wir gewesen.
    Haben wir gehandelt mit Strümpf.
    Ist einer nebbich gestorben,
    Sind wir geblieben fünf.
    Jossel mit der Fiedel …«
    Martin war inzwischen in der Corneliusstraße angelangt. Er traf Liselotte und Berthold noch im Wintergarten. Er sah Berthold an. Erkannte, wie erwachsen der Junge in den letzten Wochen geworden war, wie vertrübt, gealtert auch er. Er war ein schlechter Vater, daß er so lange nichts gesehen hat. Er legte ihm die schwere Hand auf die Schulter, sein Sohn war jetzt wahrhaftig schon größer als er. »Na, mein Junge«, sagte er. Berthold sah sogleich, daß der Vater alles wußte. Es war ihm eine Erleichterung, daß er nun mit ihm darüber reden wird.
    »War die Konferenz mit Jacques unangenehm?« fragte Liselotte. Schon an Martins Schritt, bevor er das Zimmer betrat, hatte sie gemerkt, daß Böses über ihn hereingebrochen war. »Nun, ein Jontef war es nicht«, antwortete Martin, »um in der Ausdrucksweise unseres Schwagers zu bleiben.«
    Er sah wieder auf Berthold, abwägend. Soll er jetzt mit ihm reden? Er ist erschöpft, hundemüde. Das Schönste wäre, das Licht ausschalten, die Augen zumachen, nicht erst ins Bett gehen, sitzen bleiben, wie er ist, in diesem Sessel. Es ist kein so bequemer Sessel wie die bei Jacques, es ist ein Oppermann-Sessel, er könnte sich auch einen kostspieligeren leisten, es ist aus Pflichtgefühl, daß er nur Oppermann-Möbel in seiner Wohnung hat. Daß er die Sache mit Wels vermasselte, war auch nur, weil er damals nicht gut disponiert war. Er sollte vielleicht erst morgen mit Berthold reden. Aber jetzt, mit Berthold und Liselotte zugleich, ist es leichter. Und morgen muß er zu Wels, sich demütigen.
    »Du hast ja auch während der letzten Wochen deine Sorgen gehabt, mein Junge«, beginnt er. Es klingt frisch, nicht schwer. Man hat mehr Kraft, als man denkt; sooft man glaubt, jetzt ist es wirklich aus, jetzt kann ich nicht mehr, man findet doch immer wieder Reserven. »Es war freundlich von dir, uns nicht mit deinen Geschichten zu behelligen. Aber ich wäre dir gern zur Verfügung gestanden, Berthold. Und Mutter auch.« Liselotte wendet ihr helles Gesicht von einem zum andern. Sie hat es nicht leicht gehabt in diesen letzten Wochen zwischen dem schweigsamen Mann und dem schweigsamen Sohn. Die Zeiten verlangen allerhand von der christlichen Frau eines jüdischen Mannes, von der christlichen Mutter eines jüdischen Sohnes. Es ist gut, daß jetzt endlich gesprochen wird.
    »Du hast kein Glück gehabt mit deinem Vortrag, Berthold«, sagt sie, als Martin mit der Erzählung zu Ende ist. »Du hattest dich so darauf gefreut.« Man kann schwerlich schlichter ausdrücken, was alles um diesen Vortrag herum geschehen ist; dennoch spürt Berthold, daß die Mutter alles gesagt hat, daß sie um jede Nuance so genau weiß wie er. »Es warein guter Vortrag«, erklärt er plötzlich leidenschaftlich. »Ich habe das Manuskript. Ihr werdet sehen, du, Vater, und du, Mutter, es ist das Beste, was ich gemacht habe. Auch Rektor François wird es bestätigen. Dr. Heinzius hätte Freude daran gehabt.« – »Ja, mein Junge«, begütigt Liselotte.
    »Aber jetzt ist Dr. Vogelsang da«, leitet Martin zur Sache zurück. »Zwei Monate sind es noch bis zur Osterversetzung«, überlegt er. »So lange mußt du ihn aushalten.« – »Du meinst, ich soll Abbitte tun?« Berthold bemüht sich, sachlich zu sprechen, geschäftlich geradezu, ohne Bitterkeit.

Weitere Kostenlose Bücher