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Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Titel: Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lion Feucht Wanger
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einemsolchen Elementarereignis die Kraft und die Klugheit des einzelnen?
    Nach einigem Hin und Her kamen die Jungens im Fußballklub überein, Berthold auszuschließen. Sie taten es mit Unbehagen. Nicht nur, daß jetzt das Match mit dem Fichte-Gymnasium durch das Ausscheiden Heinrichs für sie aussichtslos wurde, sie fanden auch, Berthold sei ein guter Kamerad. Sie wußten selber nicht recht, warum sie ihn diffamierten.
    Heinrich Lavendel war tief ergrimmt. Er fand Bertholds Verhalten ein bißchen doof – er an seiner Stelle hätte widerrufen –, aber hochanständig. Wenn er Heldentum hätte exemplifizieren müssen, er hätte es am Verhalten Bertholds getan. Da hat man Aufsätze zu schreiben über den Gewissenskonflikt Wallensteins, Torquato Tassos. Quatsch, meine Herren. Hier haben Sie die wirklichen Probleme. Wie soll man sich verhalten, klug oder anständig? Irgendein klassischer Franzose hat gesagt: »Wenn man mich beschuldigt, Notre-Dame in die Tasche gesteckt und gestohlen zu haben, dann türme ich postwendend.« Das Verhalten zum Beispiel, das dieser klassische Franzose anrät, ist klug. Er selber, Heinrich, verhält sich auch klug. Er denkt nicht mehr daran, den Rotzjungen, den damned fool, den Langen Lulatsch anzuzeigen. Berthold hingegen verhält sich anständig: er widerruft nicht. Im zwanzigsten Jahrhundert kommt man mit Vernunft zweifellos weiter als mit Anstand. Dennoch imponiert ihm Berthold, und er mag ihn sehr.
    Mit Erbitterung sah er die wachsende Vereinsamung seines Freundes und Verwandten. Denn nachdem man einmal Berthold aus dem Fußballklub ausgeschlossen hatte, mußte man konsequent sein. Hatten die Jungen Adler von Anfang an aus prinzipiellen Gründen den Verkehr mit ihm abgebrochen, so folgten ihnen jetzt langsam die andern.
    Berthold ging herum, versperrt, schweigsam. Sein Schlaf wurde schlecht. Eines Abends, nach dem Essen, sagte Liselotte zu ihm: »Ich sehe lange Licht in deinem Zimmer, Berthold. Ichglaube, in einem solchen Ausnahmefall könntest du es mit einem Schlafmittel versuchen. Geh ruhig über die Hausapotheke, wenn es einmal gar zu spät wird.« – «Schönen Dank, Mutter«, sagte Berthold, »aber ich komme auch ohne das aus.«
    Trotzig versuchte er sich einzureden, es sei gleichgültig, wie die in der Unterprima zu ihm stehen. Er hat seinen Onkel Joachim Ranzow, seine Kusine Ruth, Heinrich Lavendel, hat Kurt Baumann. Kurt, das muß man sagen, hat sich hochanständig benommen. Er denkt nicht daran, den blöden Heroenkult mitzumachen, den die andern mit dem Langen Lulatsch treiben. Das ist allerhand.
    Um diese Zeit konnte Berthold wieder einmal den Wagen haben. Auf seine männliche Art, obenhin, als wäre es nichts, als wäre es keine große Vergünstigung, sagte er zu Kurt Baumann: »Morgen abend um sechs, nach dem Englisch, kann ich den Wagen haben. Also, um sechs Uhr fünf an der Meierottostraße.« Eine ganz winzige Zeit zögerte Kurt Baumann. Dann sagte er: »Au Backe, das ist fein.«
    Um sechs Uhr fünf am andern Tag sagte Berthold zu Chauffeur Franzke, der an der Meierottostraße wartete: »Eine Minute noch. Ich erwarte Kurt Baumann.« – »Bon«, sagte Chauffeur Franzke. Um sechs Uhr acht sagte Berthold: »Noch eine Minute. Er muß sogleich kommen.« – »Aber gewiß doch, Herr Berthold«, sagte Chauffeur Franzke. Um sechs Uhr fünfzehn sagte Berthold: »Fahren wir los, Franzke.« – »Wir können gut noch fünf Minuten warten, Herr Berthold«, sagte Chauffeur Franzke. »Nee, Franzke«, sagte Berthold, »fahren wir schon los.« Er bemühte sich, gleichgültig zu sprechen.
    »Wollen Sie nicht ans Steuer, Herr Berthold?« fragte nach einer Weile Chauffeur Franzke, in der Nähe der Gedächtniskirche. Auch er bemühte sich, gleichgültig zu sprechen, als ob es gar nichts wäre, daß er heute selbst im dicksten Verkehr Berthold ans Steuer lassen wollte. »Danke, Franzke«, sagte Berthold. »Nett von Ihnen, Franzke. Heute nicht.«Rektor François saß in dem altmodisch behaglichen, verräucherten, bücherüberstopften Arbeitszimmer seiner Privatwohnung vor seinem Manuskript: »Der Einfluß des antiken Hexameters auf die Wortgebung Klopstocks«. Es war nicht einfach, sich zu konzentrieren; aber es war noch eine gute halbe Stunde bis zum Abendessen, da lohnte der Versuch. Er ließ sich von den Hexametern tragen wie von Meereswellen, ihr gleichmäßiger Fluß sänftigte seinen Unmut.
    Plötzlich wurde die Tür aufgerissen. Stürmisch, in breiter Front, brach Donnerwölkchen in

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