Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Titel: Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lion Feucht Wanger
Vom Netzwerk:
hätten brennend gern gewußt, was nun los war, aber sie hatten Scheu, ihn zu fragen. Berthold, am Montag morgen in der ersten Pause, saß allein in seiner Bank. Der eine oder andere hätte wohl gern eine anzügliche Bemerkung über ihn riskiert, aber unter den drohenden Blicken Heinrichs schwatzte manmit betonter Munterkeit Gleichgültiges. Plötzlich trat Kurt Baumann auf Berthold zu. Sein junges, rundes Gesicht war rot, die Stimme saß ihm nicht ganz sicher. »Ich glaube«, sagte er, »wir waren jüngst verabredet, Berthold. Aber ich hatte mich im Tag geirrt. Ich dachte, es sei für Freitag.« Es gehörte Mut dazu, jetzt, vor den aufmerksamen Blicken der andern, mit Berthold zu sprechen. »Es war für Dienstag, Kurt«, sagte der, »aber es macht nichts.« Er freute sich an Kurt Baumann. »Es war ein blödes Mißverständnis«, wiederholte nochmals, eifrig, Kurt Baumann. Dann trat auch Heinrich Lavendel zu ihnen. Die drei blieben während der ganzen Pause zusammen, vergnügt, schwatzten über Autos.
    »Nein, danke, Schlüter«, sagte Gustav, »lassen Sie es, wie es ist.« Er saß, die Zeitung, in der er soeben gelesen hatte, auf dem Schoß, im Halbdunkel; nur die kleine Stehlampe war eingeschaltet. Sowie Schlüter gegangen war, stand er auf, schob den schweren Sessel heftig zurück, lief hin und her, sein Gesicht verzog sich noch finsterer, er malmte leicht mit den Zähnen.
    Diese Zeitungsartikel gegen ihn, so läppisch sie sind, haben Kreise gezogen. Viele seiner Bekannten aus dem Golfklub, aus dem Theaterklub, wenn er sie anspricht, antworten gezwungen, suchen die Unterhaltung bald abzubrechen. Sogar der höfliche Dr. Dorpmann vom Minerva-Verlag, als Gustav gestern dort anrief, war verdammt reserviert gewesen. Gustav ist sicher, heute würde er den Vertrag über die Lessing-Biographie nicht mehr bekommen. Manchmal juckt es ihn, Berlin einfach aufzugeben, zu türmen.
    »Unter neunundzwanzig minus fällt in diesen Gegenden das Thermometer nicht«, hat er zu seinem Neffen Berthold gesagt. Ein billiger, leichtfertiger Trost. Jetzt, da diese seine Stadt Berlin unversehens so kalt und finster geworden ist, da sich ihr freundliches, vertrautes Gesicht über Nacht zu einer so bösartigen Fratze verzerrt hat, spürte er, wie wenig eine solche Sentenz bedeutet. Freunde, mit denen er sich verbundenglaubte, gleiten ihm weg. Täglich neue; was ihm fest für immer schien, zerbricht, noch ehe er es recht hat fassen können. Er ist weiß Gott nicht furchtsam, er hat es im Krieg gezeigt, bei mancher andern Gelegenheit; aber jetzt ist ihm manchmal, als sei die ganze, große Stadt im Begriff, gegen ihn loszustürzen, ihn unter ihrer Riesenmasse zu erdrücken, und ihn packt eine geradezu physische Angst.
    Es ist scheußlich, in diesen Tagen allein zu hocken, Enttäuschung und hilflose Wut im Bauch. Fast drei Wochen sind es jetzt her, daß er Mühlheim nicht gesehen hat. Mühlheim hat recht gehabt, daß er damals verstimmt gegangen ist. Alle haben recht gehabt, leider; sie haben den Haß ringsum beizeiten gewittert, nur er ist blind, dumm, naiv wie Siegfried, inmitten von lauter Feinden herumgelaufen. Was für einen braven, treudeutschen Quatsch hat er noch zu François gesagt, als der wegen des Jungen zu ihm kam. Die andern müssen ihn wirklich für blödsinnig gehalten haben. Soll sich der Junge relegieren lassen, damit er, Gustav, sich befriedigt sagen kann: wenigstens einer von der Familie markiert den Lesebuchhelden?
    Nein, Mühlheim hat das Recht, sich gekränkt zu fühlen. Mühlheim hat ihm gut geraten, hat sich den Mund fusselig geredet, um ihm Vernunft beizubringen, und er, statt ihm zu danken, hat allgemein pathetischen Stuß für ihn gehabt, ihn angeschnauzt. Es ist Wahnsinn, daß er die Geschichte so lange hat anstehen lassen, er hatte sie längst ins Lot bringen müssen.
    Er hebt den Hörer ab, verlangt Mühlheims Nummer. Mühlheims Diener meldet sich. Nein, der Herr Professor ist nicht zu Hause, er ist auch nicht im Büro, wird auch zum Abendessen nicht nach Hause kommen, hat nicht hinterlassen, wo man ihn erreichen kann. Gewiß, man wird bestellen, daß Herr Doktor angerufen hat.
    Gustav hängt den Hörer ein. Sein Zorn raucht aus, wandelt sich in dumpfe Trauer. Nun er Mühlheim nicht erreicht hat, ist niemand da, mit dem er seine Not bereden könnte. Sybil?Gewiß, sie nimmt Anteil, bemüht sich, die große, entsetzliche Veränderung um ihn zu begreifen. Aber sie selber ist von dieser Veränderung kaum betroffen, und

Weitere Kostenlose Bücher