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Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Titel: Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lion Feucht Wanger
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der Satte kann den Hungrigen nicht verstehen. Wieder einmal empfindet er schmerzhaft, wie Sybil immer an der Peripherie seines Daseins bleibt. Und Gutwetter? Du lieber Gott, der meint es bestimmt ehrlich. Aber er sieht auf so weite Sicht, in so großen Aspekten, daß es dem kleinen einzelnen nichts nützt.
    Anna. Sie würde ihn verstehen. Man müßte einmal nach Stuttgart fahren, um sich ordentlich mit ihr auszusprechen. Ja, das ist das Richtige, und so wird er es machen. Er wird ihr schreiben, sogleich, daß er kommt und warum.
    Er schaltet das Licht ein. Beginnt zu schreiben. Aber im vollen Licht sieht sich alles ganz anders an. Anna wird es bestimmt sentimental finden, daß er nach Stuttgart will, nur um allgemeine Gefühle mit ihr auszutauschen. Eigentlich findet er selber es sentimental. Aber nun hat er es sich einmal vorgenommen. Er schreibt weiter. Überliest die erste Seite. Die Worte sind voll verlogener Ironie, voll krampfiger Leichtigkeit. Nein, so kann er an Anna nicht schreiben. Er zerreißt den Brief.
    Er versuchte zu arbeiten. Er konnte es nicht. Er nahm ein Buch zur Hand, legte es wieder weg. Öde und lang lag der Abend vor ihm. Schließlich ging er in den Theaterklub.
    Man war höflich zu ihm, doch sein gereiztes Mißtrauen witterte überall Abwehr. Er aß allein. Schon wollte er nach Hause gehen, als ihn Professor Erkner, ein bekannter Theatermann, zu einer Partie Ekarté aufforderte. Gustav, froh um die Ablenkung, spielte zunächst mit Hingabe. Bald aber ließ sein Interesse nach. Mühlheim, die Lessing-Biographie, Anna, alles drängte sich ihm vor die Karten. Er zwinkerte nervös mit den Augen, spielte zerstreut. Doch auch Professor Erkner, sein Partner, spielte zerstreut. Das Berliner Theater, zwei Jahre zuvor das beste Europas, war infolge der nationalen Bewegung rasch verfallen; gelangten die Völkischen wirklich an die Macht, dann war die deutsche Bühne endgültig verloren. DerTheatermann also hatte keine geringeren Sorgen als Gustav. Gustav sah überrascht, daß er, als man aufhörte, ansehnlich gewonnen hatte.
    Er strich seinen Gewinn ein, zerstreut. Sagte Professor Erkner für einen der nächsten Abende Revanche zu. Sah hinüber, wo Herr von Rochlitz sich mit ein paar andern Bekannten unterhielt, gespannt, ob Rochlitz, wenn er jetzt an ihm vorbeigeht, ihn aufhalten, ein paar Sätze mit ihm reden wird, wie er es häufig tut. Herr von Rochlitz winkte ihm zu: »Hallo, Oppermann«, setzte sein Gespräch fort, ließ ihn vorbeigehen. Gustav schaute vor sich hin, ging weiter, steifen, nicht zu schnellen Schrittes, mit ganzer Sohle auftretend. Noch mehr Leute winkten ihm zu, höflich, doch sichtlich nicht sehr daran interessiert, ihn zu sprechen.
    Gustav ging weiter, immer gerade vor sich hin. In der Nähe des Spielsaaleingangs stand der alte Klubdiener Jean. Wartete auf sein gewohntes Fünfmarkstück. Gustav ging an ihm vorbei, zerstreut, nickte ihm nicht einmal zu. Das Gesicht des Alten wurde dumm vor Verblüffung. Es dauerte fast eine halbe Minute, ehe er seine gehaltene Würde wiederfand.
    In dieser Nacht vom Montag zum Dienstag, kurz nach drei Uhr morgens, wurde Gustav durch den neben seinem Bett stehenden Telefonapparat aus dem Schlaf gerissen. Mühlheims Stimme kam aus dem Apparat. Er sagte, er müsse Gustav sprechen, jetzt, sogleich. Worum es sich handle, könne er ihm am Telefon nicht sagen. In zwanzig Minuten werde er bei ihm sein.
    Gustav, aufgestört, schlaftrunken, nahm den schwarzen Schlafrock um, spülte sich den trockenen Mund. Was war los? Mühlheims Stimme hatte ganz verändert geklungen. Gustav zwinkerte nervös mit den Augen, hatte leichte Kopfschmerzen, ein unbehagliches Gefühl im Magen.
    Endlich kam Mühlheim. Er hieß den Chauffeur seiner Droschke warten. Noch vor dem Haus, während Gustav ihn hineingeleitete, sagte er: »Der Reichstag brennt.« – »Was?«fragte Gustav zurück. »Der Reichstag brennt?« Er begriff durchaus nicht. Deshalb hat Mühlheim ihn aus dem Schlaf gerissen? Mit unbehaglicher Spannung wartete er auf Mühlheims Erklärung.
    Es dauerte eine Ewigkeit, bis Mühlheim den Mantel abgelegt hatte, bis er in Gustavs Arbeitszimmer war. Endlich saßen sie sich gegenüber. Gustav hatte die Deckenbeleuchtung eingeschaltet, das Zimmer war viel zu hell. In dem sehr scharfen Licht sah er, daß Mühlheim schlecht rasiert war und sein Gesicht besonders verknittert. Sonst wirkten die vielen scharfen Fältchen wie eine absichtsvolle Maske, heute machten sie Mühlheim

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