Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]
alt, verbraucht.
»Du mußt verreisen«, sagte Mühlheim. »Du mußt über die Grenze. Sofort. Noch morgen.« Gustav fuhr hoch, Augen und Mund töricht aufgerissen; die Quaste seines unordentlich gegürteten Schlafrocks schleifte am Boden. »Was?« fragte er.
»Der Reichstag brennt«, wiederholte Mühlheim. »Sie haben ein Kommuniqué ausgegeben, die Kommunisten hätten ihn angezündet. Das ist natürlich Unsinn. Sie haben ihn selber angezündet. Sie wollen Material haben, um die Kommunisten zu verbieten, damit sie allein, auch ohne die Deutschnationalen, die absolute Majorität haben. Soviel ist gewiß: jetzt können sie nicht mehr zurück. Nach dieser Gewalttat kommen sie nur mehr mit immer wilderem Terror weiter. Es ist ganz klar, sie führen jetzt das Programm aus, das sie schon für die Nacht der Hindenburgwahl vorbereitet hatten. Du bist ihnen verhaßt. Sie haben in den letzten Tagen Scheinwerfer auf dich gerichtet. Sie werden ein Exempel an dir statuieren wollen. Du mußt fort, Oppermann, über die Grenze, sogleich.«
Gustav versuchte zu folgen. Es ging nicht. Die Worte prasselten wie Schläge auf seinen Kopf. Was war das für ein Quatsch, den Mühlheim ihm da vorsetzte? So bekämpften sich vielleicht Gangsterbanden, irgendwo in Zentralamerika. Aber politische Parteien? In Berlin? 1933? Mühlheim hat einen Nervenkollaps.
»Es ist kalt bei dir«, sagte Mühlheim plötzlich und schauerte leicht. Gustav selber, aus dem Schlaf gerissen, spürte ein leises Frostgefühl. »Ich will die Heizung nebenan anstellen«, sagte er und stand auf. »Laß nur«, wehrte Mühlheim ab. »Aber einen Kognak kannst du mir geben.« Er war überwach, seine Stimme war trocken. Gustav schenkte ihm den Kognak ein.
Es ist klar, dachte Gustav, während Mühlheim den Kognak hinuntergoß, die Panik ringsum hat ihn verrückt gemacht. Den Reichstag anzünden. Sie müßten ja toll sein. Wie wollen sie mit einer so ungeheuerlichen, plumpen Lüge durchkommen? So kann man Neros brennendes Rom zusammenklittern, für Kolportagehefte. Aber heute kann man das nicht machen, im Zeitalter des Telefons und der Rotationsmaschine. Er schaute auf Mühlheim, der sich einen zweiten Kognak einschenkte. Das »Auge Gottes« wanderte hin und her, Immanuel Oppermanns Bild blickte gradaus, leblos und starr in dem grellen Licht, es war vier Uhr neun. Und vielleicht hat er doch recht. Vor vier Wochen hätte man manches für unmöglich gehalten, was inzwischen passiert ist. Er ist kein Phantast. Es geschehen jetzt Ungeheuerlichkeiten. Auf keinen Fall darf ich ihn reizen, ihm scharf widersprechen. Ich will ihn nicht gleich wieder verlieren. Sehr behutsam spricht er ihm von seinen Zweifeln.
Mühlheim winkte ab. »Natürlich ist dieser Brand ungeheuer plump und dumm gemacht«, sagte er. »Aber alles, was sie gemacht haben, ist plump und dumm, und trotzdem haben sie sich bis jetzt niemals verrechnet. Sie haben mit erschreckender Folgerichtigkeit auf die Dummheit der Massen spekuliert, der Führer selber hat diese Spekulation in den ersten Ausgaben seines Buches unumwunden als das Grundprinzip seiner politischen Praxis bezeichnet: warum sollen sie nicht so weitermachen? Sie haben mit grauenvoller Zielbewußtheit da weitergelogen, wo das Große Hauptquartier bei Kriegsende hat aufhören müssen. Und die Bauern und die Kleinbürger haben ihnen jede Lüge geglaubt. Warum sollensie auf diese Lüge nicht hereinfallen? Das Prinzip der Jungens ist wirklich furchtbar einfach: dein Ja sei Nein, und dein Nein sei Ja. Mit unnötigen Feinheiten halten sie sich nicht auf. Sie sind gigantische, schauerlich vergröberte, kleinbürgerliche Machiavellis. Gerade dieser primitiven Bauernschlauheit verdanken sie ihre Erfolge. Weil nämlich die andern immer wieder annehmen, auf solche Plumpheit falle kein Mensch herein. Und dann, immer wieder, fallen alle herein.«
Gustav versuchte zuzuhören. Was Mühlheim sagte, klang, als ob es Sinn hätte, aber Gustav wollte es nicht glauben, alles in ihm weigerte sich.
Mühlheim sprach weiter: »Dieses konsequente, prinzipielle Bekenntnis zur Lüge als oberstes politisches Prinzip ist sicherlich brennend interessant. Wenn wir nicht so in Eile wären, würde ich es dir gerne an zahllosen Beispielen demonstrieren. Aber so kann ich wirklich nur eines tun: ich bitte dich dringend, reise fort, über die Grenzen, morgen, sogleich.«
Da war es wieder. Das hat Mühlheim schon zu Anfang gesagt. Gustav hat es nicht hören wollen, aber er hat längst
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