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Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Titel: Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lion Feucht Wanger
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saßen sie, in nassen Kleidern, inmitten von sonntäglich aufgeputzten Kleinbürgern. Ob sie nicht bemerkt habe, fragte Berthold, wie sein Vater infolge der letzten Geschehnisse in wenigen Wochen gealtert sei. Allein Ruth, gedämpft, doch nicht minder heftig, eiferte gegen die Väter: »Unsere Väter sind ein verbrauchtes Geschlecht. Sie gehen uns nichts an, sie haben kein Recht an uns. Wer ist denn an allem schuld? Nur sie. Sie haben den Krieg gemacht. Was anderes konnten sie nicht. Sie haben die bequemere Heimat gewählt statt der wahren Heimat. Mein Vater ist persönlich ein hochanständiger Mensch und ein guter Wissenschaftler. Auch dein alter Herr ist relativ prima. Aber man darf sichnicht von persönlichen Sympathien dumm machen lassen. Schmeiß die Sache hier hin. Heiß dich, wie du wirklich heißt: Baruch. Wie Spinoza geheißen hat. Nicht dieses alberne Berthold wie der Erfinder des Schießpulvers. Siehst du, das ist der Unterschied. Die einen haben das Schießpulver erfunden, die andern das soziale Gesetz. Geh nach Palästina, dort gehören wir hin.«
    In dem menschenerfüllten Raum roch es nach dürftigen Speisen, nach nassen Kleidern; Lärm und Rauch war in der Luft. Die beiden achteten nicht darauf. Berthold gefiel die Wildheit des Mädchens, ihre Entschiedenheit, ihre Eindeutigkeit. Er fand sie schön. Was sie sagte, erschien ihm auf einmal nicht sinnlos. War ihm Palästina nicht wirklich ebenso nahe wie Deutschland? Wenn ihn Deutschland ausstieß, dieses andere Land sträubte sich nicht dagegen, ihm Heimat zu sein.
    Aber als sie fort war und er allein nach Hause ging, verblaßten ihre Argumente. Er dachte an seinen Onkel Joachim, an das helle, blonde Gesicht seiner Mutter, an ihre langen, grauen Augen, die er geerbt hatte. Nein, der Sohn dieser Mutter, der Neffe dieses Onkels Ranzow gehört nicht nach Palästina. Der gehört hierher, in dieses Land, zu seinen Kiefern, zu seinem Wind, zu seinem Gerinnsel aus Schnee und Regen, zu seinen langsamen, nachdenklichen, soliden Menschen, zu seinem Sinn und Unsinn, zu seinem Brahms und Goethe und Beethoven, ja selbst zu seinem »Führer«.
    Er gehört in dieses Land, ja. Aber dieses sinnlose Land will doch, daß er seine Zugehörigkeit erkauft mit etwas ganz Undeutschem, Albernem. Nein, er denkt nicht daran.
    Es ist jetzt sechseinhalb Uhr. Morgen früh mit der ersten Post erwartet François seine Erklärung, daß er widerrufe. Wenn er nicht schreibt, ist das wohl Antwort genug. Das ist der letzte Briefkasten vor dem Haus. Wann ist die letzte Leerung? Um neun Uhr vierzig. Wenn er also den Brief nicht bis neun Uhr vierzig in den Kasten geworfen hat, dann ist er ein guter Deutscher und wird für einen schlechten Deutschenerklärt. Wirft er ihn aber in den Kasten, dann wird er nicht für einen schlechten Deutschen erklärt, aber dann ist er ein schlechter Deutscher.
    Er kommt nach Haus. Wieder eines jener schrecklichen, schweigsamen Abendessen. Nicht vor neun Uhr wird man damit zu Ende sein. Auch heute wartet Berthold, daß sein Vater spreche. Vergebens. Er beschaut das Antlitz seiner Mutter, das verschlossener ist, weniger hell als sonst. Es gibt für ihn keine Lösung. Er kann nicht fort aus diesem Land. Wenn dieses Land verlangt, er soll etwas Gemeines tun, dann muß er es tun.
    Es war neun Uhr vorbei, als das Abendessen zu Ende war. So schweigsam und unbehaglich es verlaufen war, die drei saßen noch eine Weile um den abgeräumten Tisch. Berthold wollte aufstehen, aber er war wie gelähmt, er wartete. Endlich sprach sein Vater wirklich. »Übrigens, Berthold«, sagte er, auffallend leicht, »hast du in deiner Sache mit Oberlehrer Vogelsang etwas unternommen?« – »Ich sollte es Rektor François bis morgen früh mitteilen, wenn ich widerrufen will. Ich habe nicht geschrieben. Jetzt ist es wohl zu spät, der Kasten wird nicht mehr geleert.« Martin schaute ihn an, nachdenklich, freundlich, schwer, aus trüben Augen. »Du könntest einen Expreßbrief schreiben«, sagte er nach einer Weile. Berthold überlegte. Es schien, als denke er nur über die Frage nach, wie die rechtzeitige Zustellung des Briefes technisch gelöst werden könnte. »Ja, das könnte ich«, erwiderte er.
    Er sagte seinen Eltern gute Nacht, ging auf sein Zimmer. Schrieb an Rektor François, »durch Eilboten«, er sei bereit, zu widerrufen. Trug den Brief selber zum Kasten, warf ihn ein.
    Die Pennäler hatten gewettet, ob Berthold widerrufen werde oder nicht. Die Wetten für Ja standen 5 : 1. Sie

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