Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]
grad heraus, hätte ich an deiner Stelle nicht widerrufen. Wenn ich heut an deiner Stelle wäre, dann, ich weiß das, oder, ich will ehrlich sein, ich glaube es fast sicher, dann widerriefe ich. Du hilfst dir selber, und du hilfst uns allen, wenn du’s tust.«
Berthold war kaum gegangen, als Ranzow sogleich seine Schwester Liselotte anrief. Er berichtete ihr kurz von seiner Unterredung mit Berthold und fügte aufrichtig hinzu, er sei nicht in guter Form gewesen, als der Junge ihn aufsuchte. Er finde, Berthold nehme die Angelegenheit tragischer, als sie sei. Liselotte möge doch versuchen, auf ihn einzuwirken.
Aber Joachim Ranzow sprach nicht zu der Liselotte, die er kannte. Sie war vollständig verwandelt. Er müsse kommen, bat sie dringlich, ihr helfen. Sie müsse vor Mann und Sohn den ganzen Tag Zuversicht markieren. Sie könne es nicht länger. Sie schäme sich so bitter vor den beiden, eine Deutsche zu sein. Endlich einmal müsse sie sich selber helfen, klagte sie, müsse sie jemanden haben, vor dem sie sich ausschütten könne.
Ranzow riß sich zusammen, sprach ihr gut zu, fand Worte, die ihm selber fast echt klangen. Er bereute heiß, daß er sich einen Augenblick lang dem Jungen gegenüber hatte gehenlassen. Man darf es nicht. Man darf auch nicht für einen Augenblick schlappmachen. Liselotte, die Arme, muß den ganzen Tag Tanzkapelle auf untergehendem Schiff markieren. Er hätte sich nur für zwanzig Minuten zusammenreißen sollen und hat versagt.
Er verpreßte die langen Lippen. Läutete den MinisterialratFreese an, den Mißliebigen, den Proskribierten. Bat ihn, heute abend mit ihm bei Kempinski zu essen, wo sie bestimmt gesehen werden.
Berthold inzwischen lief von neuem durch die Straßen der großen Stadt Berlin. Es war Abend geworden und kälter. Die ersten Lichter der Schaufenster, die ersten Lichtreklamen und die Lichter einzelner Autos flammten auf, aber die Straßenbeleuchtung war noch nicht eingeschaltet. Berthold wußte selbst nicht, warum er nicht die Straßenbahn nahm oder die Untergrundbahn. Er ging und ging, sehr rasch, als hätte er einen dringlichen Auftrag. Sonntag in acht Tagen ist Wahl, die Straßen waren voll von Menschen, überall sah man judenfeindliche Plakate und die braunen Hemden der Völkischen. Berthold in all seiner Eile beschaute sich die Passanten, sah in Hunderte von Gesichtern, nahm sie gut und merkwürdig schnell in sich auf. Allein plötzlich, als einer einen Blick von ihm scharf erwiderte, fiel ihm ein, daß sicherlich Tausende von den Leuten da auf den Straßen jenen Artikel über ihn gelesen haben. Sinnlose Angst überkam ihn, man könnte über ihn herfallen, ihn totschlagen, wie der Lange Lulatsch den Redakteur Karper gemeuchelt hat.
Dennoch trachtete er nicht nach Haus. Er rannte weiter durch die Straßen, mechanisch, ziellos. Was ging ihn, den Judenjungen, Deutschland an? Anders konnte es Onkel Joachim nicht gemeint haben, wenn Worte Sinn haben sollten. Wenn aber ein so grundanständiger, gescheiter Mensch wie Onkel Joachim findet, er sei kein Deutscher, dann ist Vogelsang doch wohl was mehr als ein bösartiger Idiot.
Er kam sehr spät nach Hause, man wartete bereits auf ihn mit dem Abendessen. Liselotte sagte ihm, am Nachmittag sei Ruth dagewesen mit Onkel Edgar; sie habe sehr bedauert, ihn nicht getroffen zu haben. Im übrigen wurde es ein schweigsames, unbehagliches Abendessen. Am meisten sprach Liselotte. Sie sprach von Musik, von den Konzerten der Philharmoniker. Berthold ging gewöhnlich zu den Generalproben amSonntag vormittag. Martin und sie selber zu den Aufführungen am Montag abend. Morgen vormittag wird Generalprobe zu der Brahmsschen Vierten sein, dazu das Violinkonzert. Furtwängler dirigiert, Karl Flesch spielt. Es ist fraglich, ob Berthold morgen früh hingehen wird, er hat sehr viel zu tun. Auch Martin kann es noch nicht übersehen, ob er Montag abend Zeit hat.
Berthold sagte sich, es sei immerhin allerhand, was man von ihm verlange. Da könnte man wenigstens den Mund aufmachen und nochmals mit ihm sprechen. Erst war man heftig und unbeherrscht, und nun sitzt man da und schweigt ihn an. »Die Vierte«, sagt Liselotte, »das ist die in e-Moll. Das Violinkonzert hat einen herrlichen Ersten Satz.« Berthold sitzt da und wartet, daß sein Vater spricht. Aber der schweigt, und Berthold ist empört.
Er atmete auf, als das Abendessen zu Ende war. Er liebte Ordnung. Aber an diesem Abend, in der Stille seines Zimmers, legte er seine Kleider nicht so
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