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Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Titel: Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lion Feucht Wanger
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säuberlich zusammen wie sonst. Er sank ins Bett, hörte noch fernher einen Autobus unten bremsen, lang kreischend, schlief ein, tief, fest.
    Schlief sehr lange. Es war halb neun, als er aufwachte. Mühsam fand er sich zurecht. So spät daran war er lange nicht gewesen. Es ist Sonntag, es schadet nichts. Was hat er heute zu tun? Es überfällt ihn: der Brief an François.
    Aber heute war er ausgeschlafen, frisch. Er brauste sich ab, eiskalt, daß es ihm den Atem verschlug. Während er sich die gerötete Haut trocknete, wußte er, was er Rektor François schreiben wird, nämlich, daß er, alles wohl überlegt, nicht daran denke, zu widerrufen.
    Er frühstückte mit gutem Appetit. Soll er nun ins Philharmonische gehen? Er kennt wenig von Brahms. Was er gehört hat, ist ihm geblieben. Er sucht eine bestimmte Melodie. Findet sie. Das freut ihn.
    Vor allem muß er Ruth anrufen. Es tut ihm leid, daß er sie gestern versäumt hat. Er wird ihr vorschlagen, nachmittags mit ihm spazierenzugehen. Das Philharmonische und Ruth,beides zusammen kann er sich nicht leisten. Er hat noch die Mathematik. Er muß sich das Konzert verkneifen. Er ruft Ruth an, trifft die Verabredung.
    Während er über der Mathematik sitzt, kommt Heinrich. Drückt etwas herum, dann rückt er heraus. Ja, er müsse doch noch mal mit Berthold diese blödsinnige Affäre Vogelsang durchsprechen. »Bitte«, sagt Berthold höflich und schaut Heinrich aufmerksam an. Der sucht eine unpassende Sitzgelegenheit, findet aber keine als den Tisch, setzt sich darauf, schnellt abwechselnd die Beine vor. »Wenn heute der Historiker Dessau erklärt, sagte er, »er sei im Gegensatz zu seiner früheren Meinung zu der Überzeugung gelangt, die Schlacht im Teutoburger Wald sei die eigentliche Ursache von Roms Untergang, dann heißt das was. Aber wenn du oder ich oder Herr Vogelsang oder mein Vater etwas dergleichen erklären, dann ist das rein komisch.« Er wies auf das aufgeschlagene Mathematikheft Bertholds. »Wenn heute Rektor François von mir verlangt, ich soll feierlich in die Zeitung setzen lassen, der Satz: (a + b) 2 = a 2 + 2ab + b 2 sei falsch und widerspreche der deutschen Ehre, sonst relegiert er mich: ich sage dir, Berthold, ich gehe glatt hin und setze es in die Zeitung. Mit Wonne.«
    Berthold hörte zu, nachdenklich. Dann, langsam, bedacht, erwiderte er: »Du hast sicher recht, Heinrich. Es wird ja auch an den Fakten nichts geändert, ob ich was widerrufe oder nicht. Es ist sehr freundlich von dir, daß du noch einmal hergekommen bist, um mit mir darüber zu reden. Aber siehst du, es handelt sich ja längst nicht mehr um den Teutoburger Wald und nicht um Hermann, auch nicht um Vogelsang oder meinen Vater: es handelt sich jetzt nur mehr um mich. Ich kann dir das nicht klarmachen, aber es ist so.« Heinrich spürte dunkel, was der andere meinte. Er wußte, daß er die besseren Argumente, aber daß trotzdem Berthold recht hatte. Ein großer Zorn stieg in ihm hoch gegen die Idioten, die Berthold in diese Lage gebracht hatten, und eine große Freundschaft für Berthold. »Red doch keinen Unsinn, Berthold«, sagte er, unddas ziemlich grob; denn er war wütend, daß er dem Freund nicht helfen konnte.
    Noch als er nach Hause kam, war sein frisches Knabengesicht finster vor Wut. Er beschimpfte sich mit den dicksten Schimpfworten, englischen und deutschen, weil er nicht fähig war, Berthold zur Vernunft zu bringen. Dabei wünschte er es im Grunde nicht einmal. Berthold war eben aus anderm Stoff und hatte, von sich aus, recht. Der sonst so vernünftige Heinrich war randvoll von einer wilden, blinden Empörung. Er setzte sich hin, schrieb an den Staatsanwalt, zeigte klar und ausführlich an, was Werner Rittersteg zu ihm gesagt hatte, bevor er Redakteur Karper das Messer in den Ranzen rannte. Diesen Brief geschrieben, wurde er ruhiger. Ihm war, als habe er eine Verpflichtung gegen Berthold erfüllt.
    Am Nachmittag dann ging Berthold mit Ruth spazieren. Sie gingen durch ein unangenehmes Gerinnsel aus Regen und Schnee, aber sie merkten es nicht, so eifrig diskutierten sie. Ruth Oppermann sah, was alle sahen, wieviel ernsthafter, erwachsener Berthold in diesen wenigen Wochen geworden war, wie hager sein fleischiges Gesicht mit den kühnen Augen. Mit gedoppelter Beflissenheit hackte sie auf ihn ein: »Was zappelst du dich hier in Deutschland ab? Es ist schade um dich. Du gehörst nicht hierher.«
    Später, als das Wetter gar zu arg wurde, setzten sie sich in ein kleines Café. Da

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