Die Gesellschaft des Abendsterns
könnte sie haben.
Vanessa atmete vollkommen gleichmäßig und verriet mit nichts, dass sie bald ihre Position verändern würde. Vielleicht hatten Narkoblixe einen besonders tiefen Schlaf. Sie würde sich möglicherweise die ganze Nacht nicht bewegen. Seth kam einfach auf keine Möglichkeit, wie er den langen Schlüssel unter ihr wegziehen konnte, ohne sie zu wecken. Der größte Teil davon lag mit ihr unter dem Laken.
Seth bemerkte eine Schachtel mit Papiertaschentüchern auf dem Nachttisch. Er nahm eines heraus. Es machte ein leises Geräusch, als er es aus der Schachtel zog, aber Vanessa zuckte nicht einmal. Seth starrte das Papiertaschentuch an und verhielt sich vollkommen reglos. Das Tuch verschwand zusammen mit dem Rest von ihm.
Er wackelte mit der Hand, schaute wieder auf das Tuch und überlegte, wie er es am besten hängen lassen sollte. Es war ein riskantes Unterfangen. Es bestand durchaus die Möglichkeit, dass Vanessa aufwachte. Aber er musste sie irgendwie dazu bringen, ihre Lage zu verändern. Nichts deutete darauf hin, dass sie es von allein tun würde.
Also beugte Seth sich vor und hielt das baumelnde Taschentuch vor ihr Gesicht. Langsam, aber sicher kam es näher, bis eine Ecke des Tuchs über ihre Nase strich. Vanessa schmatzte mit den Lippen und kratzte sich im Gesicht. Seth riss seine Hand zurück und hielt ganz still. Vanessa drehte den Kopf hin und her, seufzte leise, dann setzte ihre gewohnte regelmäßige Atmung wieder ein. Ihre Position veränderte sie nicht. Der Schlüssel lag nach wie vor zum größten Teil unter ihr.
Seth wartete sehr lange. Dann beugte er sich abermals mit dem Taschentuch vor und strich noch einmal sacht über ihre Nase. Vanessa riss ihm das Tuch aus der Hand und öffnete ihre Augen. Diesmal hatte sie darauf gewartet! Seth erstarrte, und seine unsichtbare Hand war weniger als dreißig Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt. Sie betrachtete das Taschentuch, blinzelte in Seths Richtung, dann drehte sie sich um, um in die andere Richtung zu schauen. Als sie wegsah, riss Seth die Hand zurück und wurde für einen kurzen Moment sichtbar. Glücklicherweise schaute sie immer noch in die andere Richtung. Das Ganze erinnerte ihn an das Ochs-am-Berg-Spiel, das er als kleines Kind immer gespielt hatte. Er und Kendra hatten sich an ihren Dad herangeschlichen, während er ihnen den Rücken zuwandte. Wenn er sie dabei ertappte, dass sie sich bewegten, wenn er sich umdrehte, wurden sie an den Start zurückgeschickt. Diesmal war der Einsatz bedeutend höher, aber das Spiel war das Gleiche.
Vanessa richtete sich auf. »Wer ist da?«, fragte sie, und ihr Blick huschte durch den Raum. Sie sah mehrere Male direkt durch Seth hindurch. »Errol?«, rief sie laut. Sie griff nach ihrem Blasrohr, und dabei streifte sie Seths Arm. Sie riss die Hand zurück. »Errol!«, schrie sie und strampelte ihr Laken von sich.
Seth reagierte sofort und stach ihr den winzigen Pfeil, den er in der Hand hielt, in den Arm. Ihre Augen weiteten sich vor Überraschung, als er für einen Sekundenbruchteil sichtbar wurde, aber sie hatte keine Zeit, zu reagieren. Gerade war sie noch dabei gewesen, aus dem Bett aufzustehen, aber jetzt hielt sie mitten in der Bewegung inne, presste die Lippen zusammen und fiel dann zu Boden. Seth schnappte sich den langen Schlüssel vom Bett. Er war ziemlich schwer und mehrere Zentimeter größer als er selbst. Er war froh, ihn zusammen mit seinem Körper verschwinden zu sehen, wenn er stillhielt.
Seth hörte, wie Errol den Flur entlanggerannt kam. Er sprang weg vom Bett und stand reglos da, während Errol durch die Tür stürzte und Vanessa auf dem Boden liegen sah. »Eindringling!«, rief Errol.
Wahrscheinlich, so dachte Seth, würde Errol vermuten, dass er bereits geflohen war, deshalb hielt er vollkommen still. Errol schaute sich kurz im Raum um, dann lief er wieder in den Flur hinaus. Seth hörte, wie unten die Haustür geöffnet wurde, gefolgt von schweren Schritten auf der Treppe. Würde der Kobold ihn riechen? Was sollte er tun?
Seth hörte, wie unten eine Tür zugeschlagen wurde. Der Kobold auf der Treppe schnaubte wütend. Seth hörte Errol den Flur entlangrennen. »Er ist im Arbeitszimmer!«, rief er. »Bring den Eindringling zu mir!«
Seth hörte Errol die Treppe hinunterlaufen. Kendra hatte ein Ablenkungsmanöver inszeniert, und jetzt waren ihr alle dicht auf den Fersen. Ihre Chancen standen nicht allzu gut. Seth lehnte den Schlüssel an die Tür, griff nach einem
Weitere Kostenlose Bücher