Die Gesellschaft des Abendsterns
Freuden die ganze Nacht über Beleidigungen mit ihr austauschen.
»Fabelheim ist in Gefahr«, versuchte Kendra es von neuem. »Die Gesellschaft des Abendsterns hat meine Oma und meinen Opa gefangen genommen. Mein Bruder Seth wurde getötet. Ich muss mit Lena sprechen.«
»Ich bin hier, Kendra«, erklang eine vertraute Stimme. Sie war eine Spur heller und melodischer, eine Spur weniger warmherzig, aber es war definitiv Lena.
»Psst, Lena«, sagte die Stimme unter dem Pier.
»Ich kann sprechen, mit wem ich will«, entgegnete Lena.
»Was scheren dich die Angelegenheiten der Sterblichen?«, tadelte eine der anderen Stimmen. »Sie kommen und gehen. Hast du vergessen, was Sterbliche am besten können? Sie sterben. Es ist das eine Talent, das sie alle gemeinsam haben.«
»Kendra, komm näher ans Wasser«, sagte Lena. Ihre Stimme klang näher. Links von ihr konnte Kendra unter der Oberfläche des Sees vage Lenas Gesicht ausmachen. Ihre Nase durchstieß beinahe die Oberfläche.
»Aber nur ein bisschen«, erwiderte Kendra und ging ein gutes Stück außerhalb der Reichweite der Najade in die Hocke.
»Warum bist du hier, Kendra?«
»Ich brauche deine Hilfe. Das Reservat steht kurz davor, zu fallen.«
»Ich weiß, dass du denkst, das sei wichtig«, antwortete Lena.
»Es ist wichtig«, sagte Kendra.
»Es scheint wichtig, aber nur für einen Moment. Geradeso wie die Lebensspanne eines Menschen.«
»Liegen Oma und Opa dir nicht am Herzen? Sie könnten sterben!«
»Sie werden sterben. Du wirst sterben. Und wenn es geschieht, wird es so scheinen, als sei es wichtig.«
»Es ist wichtig!«, widersprach Kendra erneut. »Was meinst du damit, nichts wäre wirklich wichtig? Was ist mit Patton? War er nicht wichtig für dich?«
Es kam keine Antwort. Lenas Gesicht durchbrach die Wasseroberfläche, und sie sah Kendra mit wässrigen Augen an. Selbst in dem schwachen Licht konnte Kendra erkennen, dass Lena jetzt viel jünger aussah. Ihre Haut war glatter und hatte einen gleichmäßigeren Teint. In ihrem Haar fanden sich nur noch einige wenige graue Strähnen. Das Wasser um Lena herum gluckste und blubberte, und sie verschwand.
»He«, rief Kendra. »Lasst sie in Ruhe!«
»Sie ist fertig mit eurem Gespräch«, sagte die Stimme unter dem Steg. »Du bist hier nicht willkommen.«
»Ihr habt sie weggezogen!«, rief Kendra zornig. »Ihr eifersüchtigen kleinen Hohlköpfe. Wasserköpfe. Was macht ihr mit ihr, sie einer Gehirnwäsche unterziehen? Sie einsperren und ihr Lieder über das Leben unter Wasser vorsingen?«
»Du weißt nicht, wovon du sprichst«, erwiderte die Stimme unter dem Steg. »Sie war des Todes, und jetzt wird sie leben. Dies ist unsere letzte Warnung. Geh und stelle dich deinem Schicksal. Überlass es Lena, das ihre zu genießen.«
»Ich gehe nirgendwohin«, sagte Kendra trotzig. »Bringt Lena zurück. Ihr könnt mir gar nichts anhaben, solange ich mich vom Wasser fernhalte.«
»Ach nein?«, fragte die Stimme unter dem Steg.
Der vielsagende Tonfall der Najade gefiel Kendra nicht. Es lag zu viel Selbstvertrauen in ihrer Stimme. Das war bestimmt ein Bluff. Sobald eine Najade das Wasser verließ, wurde sie sterblich. Trotzdem schaute Kendra sich um, in Sorge, dass jemand sich an sie heranschleichen könnte, um sie ins Wasser zu stoßen. Sie konnte niemanden sehen.
»Hallo?«, rief Kendra. »Hallo?«
Schweigen. Sie war davon überzeugt, dass die Najaden sie hören konnten.
»Sag nicht, wir hätten dich nicht gewarnt«, sang eine der anderen Stimmen.
Kendra hockte da und versuchte, sich auf alles Mögliche vorzubereiten. Hatten die Najaden vor, etwas nach ihr zu werfen? Vielleicht konnten sie den Steg zum Einsturz bringen? Die Nacht blieb friedlich und still.
Am Ende des Stegs kam eine Hand aus dem Wasser. Kendra sprang zurück, und das Herz schlug ihr bis zum Hals. Die Hand war aus Holz. Mit kleinen goldenen Haken als Gelenke. Mendigo hievte sich aus dem dunklen Wasser und kletterte auf den Steg.
Kendra wich zurück, während Mendigo, die hölzerne Stockpuppe, die Muriel in einen furchterregenden Diener verwandelt hatte, aufstand. Letzten Sommer hatten die Najaden die übergroße primitive Holzpuppe unter Wasser gezogen. Es war Kendra nicht in den Sinn gekommen, dass sie ihn freilassen könnten. Oder auch nur, dass er immer noch funktionieren würde. Muriel saß zusammen mit Bahumat tief unter einem grünen Hügel eingekerkert. Anscheinend hatte niemand Mendigo etwas davon gesagt.
Die hölzerne Figur
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