Die Gesellschaft des Abendsterns
stürmte auf Kendra zu. Obwohl sie seit ihrer letzten Begegnung ein ganzes Stück gewachsen war, war er immer noch vier oder fünf Zentimeter größer. Kendra drehte sich um und rannte über den Steg zurück zum Pfad. Sie konnte ihn näher kommen hören, hölzerne Füße, die über hölzerne Bretter klapperten.
Auf der untersten Stufe der Pavillontreppe holte er sie schließlich ein. Kendra wirbelte herum und versuchte, ihn zu packen. Sie hoffte, sie würde einen Arm oder ein Bein zu fassen bekommen und könnte es aus dem Gelenk drehen. Er wich ihren Händen geschickt aus, packte sie um die Taille und drehte sie mit dem Kopf nach unten. Kendra wehrte sich aus Leibeskräften, aber Mendigo presste ihr einfach die Arme an den Körper.
Kendra war vollkommen hilflos — ihr Gesicht von Mendigo abgewandt, hing sie kopfüber und konnte ihre Arme nicht bewegen. Sie zappelte und wand sich, aber Mendigo war erschreckend stark. Als die übergroße Holzpuppe sich schließlich mit ihr vom See entfernte, begriff Kendra, dass Mendigo jetzt das Ziel ihrer Reise bestimmte.
KAPITEL 14
Wiedersehen
S eth zog ein weiteres Stück der schwammigen Wand ab und stopfte es sich in den Mund. Die Konsistenz erinnerte ihn an das Fruchtfleisch von Zitrusfrüchten. Er kaute so lange, bis nur noch ein kleiner, zäher und geschmackloser Klumpen übrig war, den er hinunterschluckte. Dann spitzte er seinen Mund und drückte ihn gegen die Wand des Kokons. Je heftiger er die Wand küsste, desto mehr Feuchtigkeit floss in seinen Mund. Wasser mit einem Hauch von Melone.
Ollock brüllte abermals, und der Kokon erbebte. Seth wurde herumgewirbelt, während der Kokon von einer Seite zur anderen schlingerte. Als Seth endlich wieder Halt gefunden hatte, hörte die Bewegung auf. Mit der Zeit hatte er sich an das Brüllen und das Herumgeworfenwerden gewöhnt, aber die Vorstellung, dass er dieses Brüllen aus dem Innern eines Kokons im Bauch eines Dämons hörte, blieb merkwürdig.
Seth hatte auch versucht zu schlafen, aber die ersten Male war er immer wieder von dem Gebrüll geweckt worden. Nur ab und zu war er – nicht zuletzt aufgrund seiner wachsenden Müdigkeit – in einen unruhigen Schlaf verfallen.
Die Zeit verlor in dieser endlosen Schwärze ihre Bedeutung. Nur das Knurren und die Bewegungen des Dämons unterbrachen die Eintönigkeit. Das und die Stückchen der gepolsterten Kokonwand, die er zu sich nahm. Wie lange war er schon in Ollock? Einen Tag? Zwei Tage? Drei? Zumindest
hatte Seth es in seiner gebärmutterartigen Umgebung einigermaßen behaglich. Es war kuschelig, und trotzdem hatte er genug Freiraum, seine Arme zu bewegen, wenn er etwas von den Wänden abzupfen wollte. Selbst wenn er herumgewirbelt wurde, verletzte er sich niemals, weil die Wände so weich gepolstert waren, und es war nicht genug Platz, um in gefährliche Positionen geschüttelt zu werden.
Mit so wenig Luft um ihn herum schien es, als müsste der Sauerstoff binnen Minuten ausgehen, aber Seth hatte nach wie vor keine Probleme beim Atmen. Dass Ollock ihn verschluckt hatte, machte keinen Unterschied – die Luft blieb frisch. In der Enge des Kokons bekam er ein wenig Platzangst, aber wenn er in der Dunkelheit ganz stillhielt, konnte er sich einbilden, der Kokon wäre groß und geräumig.
Ollock stieß ein besonders wildes Brüllen aus. Der Kokon zitterte heftig. Der Dämon gab einige langgezogene Knurrlaute von sich, gefolgt von dem lautesten Brüllen, das Seth bisher gehört hatte. Seth fragte sich, ob der Dämon gerade in einen Kampf verwickelt war. Das Knurren und Brüllen hielt an. Seth hatte das seltsame Gefühl, als würde der Kokon zusammengedrückt, zuerst an seinem Kopf, dann in der Nähe seiner Schultern, dann an seiner Taille und schließlich an seinen Knien und Füßen. Und immer wieder dieses Brummen und Knurren.
Der Kokon wurde ein letztes Mal hin und her geworfen, dann folgte Stille. Seth lag regungslos da und wartete darauf, dass das Rütteln wieder anfing. Er wartete mehrere Minuten lang und rechnete jeden Augenblick mit weiterem Gebrüll. Das Knurren hatte beinahe verzweifelt geklungen. Jetzt herrschte unheimliche Ruhe. War es möglich, dass Ollock getötet worden war? Oder vielleicht hatte der Dämon den Kampf auch gewonnen und war dann erschöpft zusammengebrochen. Auf jeden Fall war es das längste Intervall von
regungslosem Schweigen, das Seth erlebt hatte, seit er verschluckt worden war. Weitere ereignislose Minuten verstrichen, bis Seth
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