Die Gesellschaft des Abendsterns
nach dem Artefakt zu machen, oder? Die Tatsache, dass Vanessa den Vertrag respektieren musste, sollte zumindest ihren Großeltern einen gewissen Schutz gewähren. Andererseits hatte Vanessa Seth indirekt getötet, indem sie ihn vom Haus weggelockt hatte. Aber vielleicht zählte das nicht, da den eigentlichen Mord Ollock begangen hatte.
Um alles noch schlimmer zu machen, hatte Vanessa irgendwo einen Komplizen: den unsichtbaren Eindringling, Christopher Vogel. Wie lange würde es dauern, bis er mitbekam, dass sie das Haus unter ihre Kontrolle gebracht hatte, und er sich ihr dort anschloss? Oder arbeitete er an einem anderen Teil eines Planes, der komplexer war, als Kendra sich überhaupt vorstellen konnte?
Sie musste etwas tun. Wo war Hugo? Würde er ihr helfen, wenn sie ihn finden konnte? Er brauchte keine Befehle von ihr entgegenzunehmen, aber da er allmählich einen freien Willen entwickelte, könnte sie ihn vielleicht überreden, ihr zu helfen. Doch wenn sie es recht bedachte, war Vanessa autorisiert worden, Hugo Anweisungen zu erteilen, weshalb eine hohe Wahrscheinlichkeit bestand, dass die verräterische Narkoblix den Golem auf der Stelle zu ihrem Feind machen würde, wenn Kendra sich ihm näherte.
Sonst gab es niemanden. Opa, Oma, Dale und Tanu waren
gefangen. Coulter war ein Albino, genauso wie Warren. Und Seth war tot. Kendra versuchte, sich von dem Gedanken nicht aus der Fassung bringen zu lassen.
Hatte sie nicht auch irgendwelche Vorteile auf ihrer Seite? Sie hatte sich den Tränkebeutel geschnappt, auch wenn sie nicht allzu genau wusste, welcher Trank welcher war. Sie wünschte, sie hätte besser aufgepasst, als Tanu Seth seine Schätze gezeigt hatte. Zumindest konnten die Tränke nicht gegen sie eingesetzt werden.
Was war mit Lena? Bei dem Gedanken keimte Hoffnung in ihr auf. Kendra war auf dem Weg zum See. Seit ihrer Rückkehr nach Fabelheim hatte sie ihre ehemalige Freundin noch nicht gesehen. Als Kendra ihr das letzte Mal begegnet war, hatte Lena sich bereits wieder in eine waschechte Najade zurückverwandelt und versucht, sie zu ertränken. Die vorübergehend auf Menschengröße angewachsenen Feen hatten Lena wieder zur Najade gemacht, nachdem sie Fabelheim gerettet und einen großen Teil des Schadens, den der Dämon angerichtet hatte, behoben hatten. Jahrzehnte zuvor hatte Lena das Wasser freiwillig verlassen und Patton Burgess geheiratet. Die Entscheidung hatte sie zu einer Sterblichen gemacht, auch wenn sie langsamer gealtert war als er. Nach seinem Dahinscheiden hatte sie die Welt bereist und war schließlich in der Absicht, ihre Tage im Reservat zu beschließen, nach Fabelheim zurückgekehrt. Lena hatte sich den Feen widersetzt, als sie sie zum See schleppten. Aber sobald sie wieder im Wasser gewesen war, hatte sie zufrieden gewirkt.
Wenn Kendra ihr den Ernst der Lage erklärte, konnte sie Lena vielleicht dazu überreden, ein weiteres Mal das Wasser zu verlassen. Dann würde sie sich der Situation nicht allein stellen müssen! Es war gewiss besser, als gar keinen Plan zu haben. Mit einem neuen Ziel vor Augen beschleunigte Kendra ihren Schritt.
Es dauerte nicht lange, da stand sie vor einer hohen Hecke. Sie wusste, dass dies die Hecke war, die den See umschloss. Wenn sie ihr folgte, würde sie schließlich zu dem Pfad kommen, der zu dem See führte. Als sie und Seth das erste Mal dort gewesen waren, hatte Seth ein Loch in der Hecke entdeckt, durch das man hindurchkriechen konnte, was der erheblich kürzere Weg gewesen war. Kendra hielt die Augen offen, da diese Abkürzung ihr eine Menge Zeit sparen würde.
Sie ging noch nicht lange an der dichten Hecke entlang, als ihr ein deutlicher Einschnitt zwischen den Blättern auffiel. Als sie genauer hinschaute, stellte sie jedoch fest, dass der Tunnel unpassierbar war — das Blätterwerk war zu dicht. Das nächste Loch, das ihr auffiel, war weniger offenkundig, aber als Kendra in die Hocke ging, sah sie, dass sie es durch diesen Tunnel bis zur anderen Seite schaffen würde.
Sie zappelte sich auf dem Bauch durch die Hecke und fragte sich, welche Tiere oder Kreaturen diesen engen Durchgang benutzen mochten. Als sie auf der anderen Seite war, stand Kendra auf und betrachtete den See. Ein weiß getünchter Bohlenweg verband ein Dutzend hölzerner Pavillons, die um das dunkle Wasser herum verteilt waren. Kendra legte den Kopf in den Nacken und sah, dass keine Sterne am Himmel standen und auch kein Mond. Es war bewölkt. Trotzdem schien genug Licht
Weitere Kostenlose Bücher