Die Gesellschaft des Abendsterns
lief noch schneller. Sie konnte hören, wie Tanu immer näher kam. »Zwing mich nicht, dir wehzutun!«, rief er. »Deinen Großeltern geht es gut. Ich habe nur dafür gesorgt, dass sie schlafen. Komm zurück, wir müssen reden.« Seine Stimme klang angespannt.
Kendra sprintete auf den Wald zu, wobei sie die direkteste
Route nahm, durch Blumenbeete trampelte und sich zwischen blühenden Sträuchern hindurchzwängte. Die Dornen eines Rosenbuschs zerkratzten ihr den Arm. Im vergangenen Schuljahr hatte sie viel Fußball gespielt und war es gewohnt zu rennen. Sie wusste ihre zusätzliche Geschwindigkeit und Ausdauer sehr zu schätzen, als sie den Wald lange vor dem massigen Samoaner erreichte und immer noch Kondition hatte.
»Der Wald ist nachts tödlich!«, brüllte Tanu. »Ich will nicht, dass dir etwas zustößt! Es ist stockfinster, du wirst einen Unfall haben. Komm zurück.« Seine Worte klangen gequält, wahrscheinlich weil er versuchte, gleichzeitig zu rennen und zu schreien.
Im Wald war es düster, aber Kendra konnte recht gut sehen. Sie sprang über einen herabgefallenen Ast und wich den dornigen Sträuchern aus. Auf keinen Fall würde sie umkehren. Vanessa hatte jetzt die Führung übernommen. Kendra wusste, wenn sie fliehen konnte, könnte sie später vielleicht mit einem Plan zurückkommen.
Von Tanu war nichts mehr zu hören. Keuchend blieb sie stehen und schaute zurück. Tanu stand am Rand des Waldes, die Hände in einer femininen Haltung in die Hüften gestemmt. Er schien zu zögern. »Ich bin dein Freund, Kendra, ehrlich. Ich werde dafür sorgen, dass dir nichts zustößt!«
Kendra hatte ihre Zweifel. Sie duckte sich und versuchte, sich ganz leise fortzubewegen, damit Tanu sie nicht hören konnte und vielleicht doch noch beschloss, sie weiter zu verfolgen. Er hielt die Hand über die Augen, als hätte er Mühe, etwas zu sehen. Anscheinend war es dort, wo sie sich befand, dunkler als an der Stelle, an der er stand. Er kam nicht hinter ihr her, und Kendra drang tiefer in den Wald vor.
Sie war nicht auf einem Pfad. Aber dies war ungefähr der Weg, den sie und Seth genommen hatten, als sie zum ersten
Mal auf den See der Najaden gestoßen waren. Wenn sie geradeaus weiterging, würde sie zu der Hecke kommen, die den See umgab, und von dort aus wusste sie, wie sie den nächsten Pfad finden konnte. Nicht dass sie eine Vorstellung gehabt hätte, wohin sie von dort aus hätte gehen sollen.
Während sie sich schnellen Schritts einen Weg durch die Farne bahnte, versuchte Kendra zu begreifen, was geschehen war. Opa hatte Vanessa als eine Narkoblix bezeichnet. Sie erinnerte sich daran, dass Errol ihr und Seth von Blixen erzählt hatte, bevor Seth in die Leichenhalle geschlichen war. Es gab eine Sorte Blixe, die einem die Jugend aussaugte, und eine andere, die die Toten wiederbeleben konnte. Narkoblixe waren die Art, die Menschen im Schlaf kontrollieren konnte.
Was bedeutete, dass Opa Recht hatte. Coulter war unschuldig. Er hatte unter Vanessas Einfluss gestanden. Vanessa scherte es nicht, wenn Seth gefressen und Coulter in einen hirnlosen Albino verwandelt wurde. Ohne jeden Skrupel kundschaftete sie den verfluchten Hain aus, um herauszufinden, wie sie das Artefakt in die Finger bekommen konnte. Vielleicht hatte sie sogar gewollt, dass Seth gefressen wurde, um Ollock aus dem Weg zu haben.
Kendra schäumte vor Wut. Vanessa hatte ihren Bruder getötet. Vanessa! Nie im Leben hätte sie so etwas vermutet. Vanessa hatte sie vor Errol gerettet und war so nett zu ihr gewesen. Und jetzt war sie allen in den Rücken gefallen und hatte das Haus übernommen.
Was sollte sie nur tun? Kendra erwog, zur Feenkönigin zu gehen, aber etwas tief in ihrem Innern warnte sie davor. Es war schwer zu erklären — es fühlte sich einfach falsch an. Sie hatte das bestimmte Gefühl, dass sie sich in eine Wolke aus Löwenzahnsamen verwandeln würde, sollte sie sich noch einmal auf die Insel in der Mitte des Sees wagen, so wie der
arme Tropf in der Geschichte, die Opa ihr vergangenen Sommer erzählt hatte.
Ging es Oma und Opa wirklich gut? Würde Vanessa ihnen etwas antun? Kendra wollte glauben, dass Vanessa es ernst gemeint hatte, als sie sagte, sie wolle ihnen keinen Schaden zufügen. Zumindest gab es Grund zur Hoffnung. Wenn Vanessa auf dem Boden Fabelheims ein Leben nahm, würde sie damit den Schutz verwirken, den der Vertrag ihr gewährte. Und das konnte sie schließlich nicht geschehen lassen, wenn sie vorhatte, sich auf die Suche
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