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Die Gesichtslosen - Fey, S: Gesichtslosen

Die Gesichtslosen - Fey, S: Gesichtslosen

Titel: Die Gesichtslosen - Fey, S: Gesichtslosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephanie Fey
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Spiegel glättete sie ihre in alle Richtungen abstehenden Haare. Jemand musste ihr einen Stein unters Kissen geschoben haben, ihre Schulterblätter schmerzten. Vielleicht hatte sie auf Sandros Hüpfball gelegen? Wandas Sofa war zwar neu, aber zu kurz, um sich auszustrecken, und zu schmal, um sich zu drehen. Noch dazu hatte Carina es sich die ganze Nacht mit einem Kater geteilt, der nicht teilen wollte. Mit ausgefahrenen Krallen war ihr Thor auf den Kopf gesprungen, hatte ihr die Ohren geknetet und in die nackten Zehen gebissen. Erst mit der südamerikanischen Ohrenklappen-Mütze, die sie eigentlich Wanda mitgebracht hatte, und dicken Wollsocken konnte sie einschlafen. Der Kater rollte sich auf ihr zusammen und lag ihr die ganze Nacht wie ein Felsbrocken auf dem Bauch.
    In der Küche fand sie kein frisches Glas auf der Ablage und trank den Orangensaft aus der Packung, deren Haltbarkeitsdatum seit Wochen abgelaufen war. Weil Wanda noch schlief, hatte sich Sandro selbst ein Müsli aus sauren Gurken und Schokoladenkeksen gemacht. Gerade bemalte er seine Gummistiefel mit Nagellack. Carina wünschte ihm einen guten Kindergartentag und versprach, bald einen Ausflug mit ihm zu machen.
    Den Fahrstuhl im Rechtsmedizinischen Institut mied sie. Eng, wie es war, verlangte das altehrwürdige, niedrige Treppenhaus mit den steinernen Stufen genug Überwindung. Um zwanzig nach acht gab ihr die Putzfrau von der Nachtschicht die Klinke in die Hand, und sie betrat den Seziersaal. Auf vier von fünf Tischen lagen teils bekleidete, teils nackte Tote.
    Ein paar der neuen Kollegen, die soeben mit den Obduktionen begannen und in die Diktiergeräte sprachen, kannte sie bereits. Die Toxikologin Dr. Susanne Schmetterer hatte mit Carina das praktische Jahr in der Uniklinik Düsseldorf absolviert. Danach war Susanne nach München und Carina nach Mexiko-Stadt gegangen. Sie und Rudi Nusser begrüßten Carina freundlich. Rudi wirkte mit seiner gedrungenen halslosen Gestalt, den überbreiten Schultern und den langen Armen wie der Quasimodo des Instituts. Er war hier schon Präparator und Sektionsassistent gewesen, als Carina ihr studentisches Praktikum machte. Jetzt trug er ein neckisches Kinnbärtchen, vielleicht, um von seinen über die hohe Stirn gekämmten Haarsträhnen abzulenken. Ihre neue Chefin, Frau Professor Paula Feininger, verdeckte mit ihrer massiven Statur fast die gesamte Längsseite eines Tisches. Welcher Schneider hatte ihr aus zwei grünen Kitteln einen zusammengefügt?
    »Holen Sie sich gleich den Neuzugang von gestern Nacht, Frau Kyreleis.« Ohne Carinas »Guten Morgen« zu erwidern, zog sie ihren kurzen dicken Arm aus dem Brustkorb einer Leiche und wedelte Richtung Kühlfächer. »Ich hasse Unpünktlichkeit«, ergänzte sie, als Carina den Mund aufmachen wollte. »Also versuchen Sie gar nicht erst, sich zu rechtfertigen.«
    Rudi schob sich einen Rest Schokoriegel in den Mund und half Carina in Kittel und Handschuhe.
    Schnell spurtete sie zu den Kühlfächern hinüber. Vierundzwanzig fast quadratische, chromsilberne Türen, sechs Reihen, vier übereinander. Wie sollte sie den richtigen Toten finden, ohne alle Leichen herauszuziehen, die Tücher zurückzuklappen und die Körper zu untersuchen? Carina spürte die Blicke der anderen im Rücken. Merkwürdig still war es plötzlich im Seziersaal. Sogar die kreischende Kopfsäge schwieg. Wie ein Kind kam sie sich vor, auf der Suche nach dem richtigen Türchen im Adventskalender. Nur die Nummerierung fehlte. Die Halter für die Beschriftungen waren leer. In ihr keimte der Verdacht, dass die Schilder absichtlich entfernt worden waren. Als eine Art Bewährungsprobe für die Neue mit dem biblischen Namen. Gleich würde sie mit ihrer Blamage die ganze Belegschaft zum Lachen bringen. Sie schritt die Chromfächer entlang. Die Putzfrau fiel ihr ein, sicher hatte sie auch hier sorgfältig gewischt und poliert. Carina bückte sich, wippte vor und zurück, betrachtete die Türen von der Seite gegen das Licht. Auf der zweiten von unten links entdeckte sie Fingerabdrücke. Kurzentschlossen drehte sie den Hebel. Treffer. Rudi mit seiner Schokolade hatte Carina gerettet. Die neuen Kollegen johlten. Der Präparator pfiff anerkennend durch die Zähne, als sie den Leichnam in den Saal rollte.
    »Weibliche Intuition oder Spürnase?«, fragte Paula Feininger.
    Carina schwieg, deckte die Leiche auf. Der zerstückelte Torso ließ sie alles andere vergessen.

8.
    Der Kaiser hinter seinem Schreibtisch strahlte

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