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Die Gesichtslosen - Fey, S: Gesichtslosen

Die Gesichtslosen - Fey, S: Gesichtslosen

Titel: Die Gesichtslosen - Fey, S: Gesichtslosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephanie Fey
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und setzte aus ihren Skizzen und Forschungsergebnissen eine Biografie für sie zusammen. Während Wanda als Backgroundsängerin brummte und summte und der Familie beim Sonntagsessen Kostproben zum Besten gab, berichtete Carina aus dem Leben einer Maus, die vom Regen aus ihrem Mauseloch geschwemmt worden und ertrunken war.
    Bald fieberte sie ihrer ersten richtigen Obduktion entgegen. Einen Menschen aufzuschneiden, stellte sie sich noch spannender vor. Im Studium erkannte sie, wie ähnlich sich alle innerlich waren, ob lebendig oder tot. Erst nach und nach fand sie heraus, dass es gravierende Unterschiede gab. Ein guter Rechtsmediziner konnte in einer Leiche lesen wie in einem Tagebuch. Keiner glich dem anderen, man musste nur genau hinsehen.
    Als die Befunde festgehalten und die Leichen wieder im Adventskalender verschwunden waren, fanden sich alle, bis auf die Professorin, in der Kantine wieder.
    »Paula lässt sich ein Fünf-Gänge-Menü ins Büro liefern«, Rudi Nusser schmatzte über seiner Schweinshaxe. »Inklusive blutjungem Nachtisch.« Fett tropfte in seinen Kinnbart. Er wischte es mit dem Kittelärmel fort. »Nun komm, erzähl von Mexiko«, forderte er Carina auf. »Da wollte ich auch mal hin. Na ja, eher nach Peru zum Leuchtenden Pfad.«
    So wie eine Kranke nur auf Leute trifft, die von ihren eigenen Krankheiten berichten, so löste »Mexiko« bei anderen Reiseträume aus. Carina lauschte geduldig einen Teller Penne mit Austernpilzen und sogar noch eine Mousse au Chocolat lang des Präparators Guerilla-Idealen und verabschiedete sich danach. Ganz ohne Hektik wollte sie sich am Nachmittag alleine im Institut umschauen und mit den Gerätschaften vertraut machen.

10.
    München, Juni 1989
    Sie eilte durch den Innenhof, so schnell es ihre hohen Absätze erlaubten. Am liebsten hätte sie die Schuhe ausgezogen, ihre Zehen und Hacken brannten. Mit einem Taxi wäre es bequem gewesen. Aber das konnte man zurückverfolgen. Solange die öffentlichen Verkehrsmittel noch nicht überwacht wurden, war die U-Bahn sicherer, hatte Felix ihr eingeschärft. Nicht mehr lange – ihr Chef verhandelte bereits auf dem Bayerischen Landtag über eine Komplettüberwachung der Innenstadt. Endlich hatten sie ein Konzept entwickelt, um den Terrorismus der RAF und sonstiger Linksradikaler bekämpfen zu können. Sicherheit für Deutschland, diktierte er ihr im Betreff. Geplante Attentate würden frühzeitig erkannt werden. Gerade jetzt, in Zeiten des Umbruchs in Osteuropa, musste man auch in Westdeutschland den Frieden sichern und eine dritte Generation der RAF ausmerzen.
    »Staat stirb!« schrubbte jemand von der antiken Fassade des Staatsministeriums. Fast wäre Rosa über einen Kübel mit schmutziger Brühe gestolpert. Das hätte gerade noch gefehlt.
    Ihr Liebster, in handgenähten Loafers, redete sich leicht. Er bekam auch keine Blasen von hochhackigen Schuhen. Sie klackerte zur Unterführung am Odeonsplatz, hinunter zum Bahnsteig und erwischte die abfahrbereite U-Bahn. Eingepfercht zwischen einem Kinderwagen und einem labbrigen Hasen-Luftballon, der ihr vor dem Gesicht herumtanzte, versuchte sie zu Atem zu kommen. Der Schweiß stand ihr auf der Stirn, und ihr war schwindelig, wie so oft in letzter Zeit. Sie tastete unter den Blazer. Bloß keine Schweißflecken. Aber auch wenn es eiskalt gewesen wäre, hätte sie vor Aufregung geglüht. Den ganzen Tag hatte sie die Minuten bis zum Feierabend gezählt, die Mittagspause ausfallen lassen, nur um früher Schluss machen zu können. Und dann bat ihr Chef sie noch zum Diktat. Am liebsten hätte sie Nein gesagt, als ob das ginge, bei einer Frau in ihrer Position. Ein Stockwerk tiefer lauerten die Tippsen der Großraumbüros immer noch auf einen Fehler von ihr. Würde Rosa den Staatssekretär, der sie anstandslos von seinem Vorgänger übernommen hatte, endlich enttäuschen? Vor allem Julia Herbig hatte es auf ihren Posten abgesehen. In der Kantine scharwenzelte sie um Rosa herum, bot ihr einen Platz an oder empfahl ihr Gerichte, wenn sie sich in der Schlange vor der Essensausgabe trafen. Aber Rosa hatte ihren abschätzigen Blick bemerkt, das Getuschel mit den Kolleginnen und das plötzliche Verstummen, wenn sie vorbeiging. Sie verdächtigte die Herbig auch, diese Schmähzettel in ihre Ablage geschoben zu haben.
    Das hatte kurz nach ihrer Beförderung angefangen. Von den dreizehn Bewerberinnen hatte Rosa die unpolitischsten Antworten gegeben und hielt sich selbst für eine komplette Versagerin.

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