Die Gesichtslosen - Fey, S: Gesichtslosen
ihn an.
»In einem, spätestens zwei Monaten ist ein Platz in einer Wohngemeinschaft frei«, verkündete er und schabte sich den Schweiß mit einem Schnellhefter von der Stirn. Das kleine Fenster im Sozialamt war mit Akten verstellt. Der Miniventilator auf dem Computerbildschirm schaffte es nicht, die dicke, warme Luft in eine Brise zu verwandeln. Zögernd nahm Romeo den wellig gewordenen Hefter entgegen und überflog ihn. Viel Kleingeschriebenes ohne Bilder. Er seufzte, pickte sich die Überschriften heraus: Stärke, Kompetenz, Beeinträchtigung entzifferte er. Julius Kaiser, wie es auf seinem Brustschildchen stand, faselte weiter, ein wichtiger Schritt in die Unabhängigkeit sei das und seine Behinderung kein Grund, eine richtige Ausbildung zu beginnen. Er könne endlich den Absprung von zu Hause schaffen. »Sind Sie bereit?«
Romeo stellte sich vor, wie er auf einem Zehnmeterbrett stand. Unter ihm drehte sich die Welt wie eine Lottokugel, er brauchte nur zu springen. Würde er in den Ozean eintauchen und verschluckt werden? Wenn er nur an Wasser dachte, schnürte es ihm den Hals zu und die Forelle in ihm begann zu zappeln. Er hielt sich mit beiden Händen den Kopf, bis das Zittern aufhörte. Lieber auf Land aufschlagen, wenn auch mit gebrochenen Gliedern, dachte er und nickte zögernd.
»Pfundig.« Julius Kaiser klatschte sich selbst Beifall und deutete auf den Kasten, den Romeo neben sich abgestellt hatte. »Sie musizieren? Das wusste ich gar nicht.« Der Kaiser klickte im Computer herum, suchte in Romeos Profil, wo sein richtiger Name stand. Jedenfalls der, den ihm die Zehnmeterbrettschubser gegeben hatten.
»Ich trage es unter Interessen ein. Sehr schön, Musik ist die Sprache der Seele.«
Derselbe Effekt wie überall. Wegen des Kastens folgerte man, dass er Geige oder Bratsche spielte. Durch die vielen Flicken wirkte der Kasten wie ein kostbarer Foliant aus dem Mittelalter. Der Spieler, der das Instrument darin beherrschte, musste einfach ein Virtuose sein. Was in gewisser Weise auch stimmte. Romeo konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
Der Kaiser schnalzte mit der Zunge, er glaubte, die Freude gelte seinem Projekt. Mit Bekloppten unter Aufsicht Mensch-ärgere-dich-nicht spielen, das fehlte Romeo noch. Er gab den Prospekt zurück, ließ den Kaiser weiter hoffen und betrachtete das gerahmte Foto neben der Kaffeetasse. Vermutlich die Kaiserin, ein Schnappschuss, leicht unscharf. Das Gesicht der Frau hatte den gelösten Ausdruck, den einzufangen nur einer vertrauten Person gelang. Ihr Anblick berührte etwas in ihm. Waren es die Augen, die ungezupften Augenbrauen, die wie Vogelschwingen zusammengewachsen waren, oder die langen Haare, die aus dem Rahmen zu fließen schienen? Er griff nach dem Bild und hielt es sich an die Wange, in Gedanken bei den verlorenen Gesichtern seiner Geliebten. Der Besitzer riss es ihm fort, polierte es am Knie seiner Bundfaltenhose, als hätte Romeo es beschmutzt, und legte es in eine Schreibtischschublade. Seufzend wandte er sich wieder dem Bildschirm zu, tippte in ein Formular. »Sind Sie Deutscher?«
No, italiano, hätte er am liebsten geantwortet, oder Engländer, wie dieser Schriftsteller, wie hieß der doch gleich, der, der Romeos Leben aufgeschrieben hatte? Es wollte ihm nicht einfallen. Er schlug sich gegen die Stirn. Aber auch die Forelle hatte keinen blassen Schimmer. Was sollte überhaupt die Frage? Er war hier geboren und aufgewachsen, genau wie seine Mutter. Über seinen Erzeuger wusste er nichts, und es interessierte ihn auch nicht. Selbst wenn es ein Foto von ihm gab – er hätte ihn sowieso nicht erkannt. Vielleicht hatte er auch nur seinen Samen verteilt, und ein Keim war zufällig in seiner Mutter aufgegangen.
»Vater unbekannt, Mutter verstorben, steht hier. Stimmt das?« Der Kaiser musterte ihn.
Romeo versuchte sich seine Eltern vorzustellen. Ein Paar auf einem Hochzeitsbild vor einem Brunnen. Aber wie mit der Lupe gebrannt, loderte anstelle ihrer Gesichter Schwärze auf.
»Wie wäre es mit einer Schreinerlehre?« Der Kaiser hatte wohl das Formular ausgewertet. »Wenn Sie ein Instrument spielen, sind Sie doch geschickt mit den Händen. Oder warten Sie – Konditor, wie wäre es damit?«
Romeo horchte auf. Filigrane Kunstwerke herstellen, Pralinen, Blumen aus Marzipan, das würde ihm gefallen. Noch lieber arbeitete er mit Tieren, die verstanden ihn auch ohne Worte.
»Sie würden Torten verzieren für Geburtstage und Hochzeiten, wie wäre das?« Gleich
Weitere Kostenlose Bücher