Die Gesichtslosen - Fey, S: Gesichtslosen
würde er ihm noch erklären, was eine Torte war. Denn jemand, der seine Stimmbänder nicht benutzte, aß wahrscheinlich Sandkuchen vom Spielplatz. Marie fiel ihm wieder ein. Er ließ die Verschlüsse des Kastens aufschnappen.
Julius Kaiser winkte ab. »Tut mir leid, ich würde nur zu gerne ein Ständchen hören, aber mich plagt ein Tinnitus.« Er klopfte sich aufs Ohr. »Vielleicht ein andermal.« Auf ein Kärtchen kritzelte er den Termin für das Vorstellungsgespräch in der Behindertenwerkstatt.
Als Romeo endlich aus dem Sozialamt trat, setzte er sich auf die kleine Mauer zur Straße und spähte zum Haus gegenüber. Im ersten Stock döste eine dreifarbige Katze am offenen Fenster. Die waren selten und brachten Glück. Und das brauchte er, um ein neues Gesicht zu finden. Die Wohnung ganz oben, mit der Zwiebelkuppel, schien leer zu sein. Keine Vorhänge oder Topfpflanzen wie an den übrigen Fenstern. Er stand auf und ging hinüber, um die Klingelschilder zu lesen.
9.
Bis in den frühen Nachmittag arbeiteten sie an fünf Sektionstischen nebeneinander. Carina assistierte bei der S-Bahn-Leiche, prüfte, ob alle Leichenteile vorhanden waren. Der Kopf der dreiundvierzigjährigen Frau war von der S-Bahn abgetrennt worden, ihr Körper in viele Einzelteile zerlegt. Die Spurensicherung und die Feuerwehr hatten alles aufgesammelt. Carina untersuchte die inneren Organe, auch hier fehlte nichts. Vermutlich, weil sie sich nicht allzu ungeschickt anstellte, forderte Prof. Paula Feininger sie auf, die Ergebnisse für die Staatsanwältin zusammenfassen, die gerade eingetroffen war. Eindeutig Selbstmord. Gegen zwei Uhr nähte Rudi Nusser die Toten wieder zu, auch die Teile der lebensmüden Frau wurden aneinandergefügt, damit sie bestattet werden konnte. Alexander Herzog, ein kahlköpfiger Mittvierziger, der sich ihr als Pathologe und Rechtsmediziner vorgestellt hatte, holte die versteckten Karten mit den Namen und Nummern aus einer Schublade und schob sie in die Halter zurück. Nun hatten die Türchen wieder eine ordentliche Beschriftung. Carina erkundigte sich, ob derlei Tests als Einstand üblich waren. »Nur bei Prominenz.« Herzog grinste und rieb sich über die Glatze. »Aber wir waren nicht drauf gefasst, dass es Ihnen gelingt. War das Zufall oder detektivische Feinarbeit à la Matte Kyreleis?«
Carina seufzte. Also hatte sie sich nicht getäuscht. Man sah ihr genau auf die Finger, und nicht nur, weil sie neu war, sondern weil der Ruf ihres Vaters an ihr klebte. Aus diesem Grund hatte sie auch zunächst nicht auf das Stellenangebot reagiert, das sie irgendwann in Mexiko erreichte. Paula Feininger bot ihr die Mitarbeit in ihrem Team an. Carina hatte den Brief erst weggelegt und vergessen. Keinesfalls würde sie in München arbeiten, bloß um immer und überall mit ihrem Vater verglichen zu werden. Nun war sie doch zurückgekehrt, entschlossen, dem Druck standzuhalten und zu beweisen, dass sie den richtigen Beruf gewählt hatte. Sie hatte schon immer Rechtsmedizinerin werden wollen. Auch wenn sie als Kind diese Berufsbezeichnung noch nicht kannte. Als sie klein war, nahm sie ihr Vater oft mit ins Präsidium, wo sie bald ihre eigene Spielecke in seinem Büro hatte. Das wichtigste Utensil waren die dicken Kopfhörer vom Schießstand. Die sollte sie aufsetzen, wenn ihr Vater Gespräche mit Zeugen führte, wie er es nannte. Dabei redete er kaum. Er konnte so lange schweigen, bis der auf der anderen Tischseite schrie. Als Silvia davon Wind bekam, geriet sie völlig außer sich, weil sie glaubte, er hätte seine Tochter bei Vernehmungen dabei.
Er verteidigte sich: Schließlich könne er nicht immer gleich wissen, was ihm einer erzählte, der in sein Büro kam.
Als er einmal über einer besonders schwierigen Ermittlung grübelte, hatte Carina ihn gefragt, wer sich um die toten Menschen kümmerte. Wer sprach für die, die nie mehr reden oder schreien konnten? Da erklärte er ihr, es gäbe Ärzte, die nur für die Toten zuständig seien. Anschließend quengelte sie so lange, bis er sie auch in die Rechtsmedizin mitnahm. Ausgerechnet ein Kind, ein Junge, genauso alt wie sie, lag auf dem Stahltisch. Er wirkte so hilflos. Die Ärzte zogen ihm die schmutzige Kleidung aus und entblößten einen von dutzenden Schlägen verfärbten Körper. Am liebsten hätte sie seine Hand gehalten, klammerte sich stattdessen aber an die Hand ihres Vaters und prägte sich alles genau ein.
Fortan übte sie die Totensprache, untersuchte verendete Tiere
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