Die Gesichtslosen - Fey, S: Gesichtslosen
Jeanstasche und schlüpfte in den Schutzanzug.
»Wie groß ist der Hund?«, fragte er.
»Keine Ahnung. Der Notarzt wurde ins Bein gebissen, kaum dass er die Tür aufgemacht hat. Du bist doch der Fachmann.«
»Der Frequenz nach klingt es nach einem größeren Kaliber.«
Carina stellte sich neben die Tür und warf ihm einen Blick zu. Er nickte. Sie drückte die Klinke. Eine blutglänzende Hundeschnauze schob sich durch den Türspalt. Schon im nächsten Moment hatte der Tierarzt die Fangschlaufe um den Hundehals gelegt. Carina öffnete die Tür jetzt ganz. Es war ein kurzfelliger großer Hund mit hellen Schlappohren und einem schwarzen Fleck ums Auge. »Halb Terrier, halb Dogo Argentino. Ein Jagdhundmischling. Der hat in der Stadt eigentlich nichts verloren.« Er zerrte das Tier ins Treppenhaus, hielt es auf Abstand, bis es ruhiger war, klopfte ihm dann auf den Rücken. Sein Blick fixierte die Hundeaugen.
Alte Bekannte, dachte Carina. Als würde er ohne Worte mit ihm sprechen. »Das Blut an seinem Fell stammt nicht von dem Hund, nehme ich an«, murmelte sie, wie zu sich selbst. Dann betrat sie die Wohnung. Ein komisches Gefühl, als Unbefugte die Erste am Tatort zu sein. Vom Flur aus sah sie, was auch der Polizist Rüdiger bemerkt hatte: einen nackten, blutigen Frauenarm, der von der Couch herabhing. Blutspuren und Pfotenabdrücke überall. Die Frau lag im Wohnzimmer, zugedeckt bis zum Hals. Eigentlich ein friedlicher Anblick, hätte sie noch ein Gesicht gehabt.
Das Gelenk der herabhängenden Hand war aufgeschnitten, der Teppich wie die Couch blutgetränkt. Eine Deckenkuhle zu ihren Füßen war voller weißer kurzer Haare. Hier hatte vermutlich der Hund gelegen. Auch im rohen Fleisch des Gesichts konnte Carina diese Haare erkennen. Anders als bei einer Obduktion, bei der die Kopfhaut nach vorne geklappt wird, um über die Schädeldecke ans Gehirn zu gelangen, war der Frau die Haut vom Kinn über die Nase abgezogen worden. Ihre Augen waren vom Hautlappen verdeckt. Grobe Einstiche wie von einer dicken Nadel befanden sich an den Wundrändern – oder waren das die Hundezähne gewesen?
Auf einmal bildete sich eine kleine Blutblase zwischen den freiliegenden Zähnen. Atmete sie etwa noch? Hastig tastete Carina nach dem Puls. »Schnell«, schrie sie. »Sie lebt.«
5.
München, September 1987
Mit ihrer Zungenspitze umkreiste sie die seine, wollte ihn zum Schweigen bringen, doch er redete weiter. Sie leckte ihm übers Kinn, den Hals hinab bis zum Schlüsselbein, zog ihm das Hemd aus und schmeckte die Kreide, mit der er seinen speckigen Hemdkragen weißte. Ihre Lippen glitten über die einzelnen Härchen auf der Schulter, die Brust hinab. Endlich tauschte er Worte gegen Seufzer und streichelte sie, hastig, als polierte er ein Auto. Nicht. Sie bremste ihn, zwang ihn, zärtlicher zu sein. Langsam fanden sie ineinander. Obwohl sie zum ersten Mal miteinander schliefen, war ihr sein Körper vertraut, so als hätte sie schon immer auf ihn gewartet, als wäre er der Mann, der alle anderen überflüssig machte. Eine Mischung aus Schweiß und dem Geruch eines billigen Duschgels umhüllten ihn. Nur die blasse Narbe, die mitten durch die rechte Brustwarze lief, überraschte sie, und sie sparte sie aus bei ihren Liebkosungen. Sie wollte, dass es nie aufhörte, vergaß das schäbige Hotelzimmer um sich herum, die verschlissene Couch vor dem Bett, auf der sie den Stoff gerade noch mehr abwetzten. Sie tauchte in ihr Inneres ab, ein Kieselstein, der in ein großes Becken geworfen wurde. Die Gestalt über ihr rieb, stieß und saugte, warm und weich zugleich, und hielt dann die Zeit an.
Noch lange spürte sie dem Pulsieren in ihrem Unterleib nach. Sie verschlang Arme und Beine in die seinen, wollte ihn nie mehr hergeben. Doch er wand sich aus ihrer Umarmung und schaltete den Fernseher ein. Wie konnte er jetzt nur Nachrichten sehen? Es gab nichts Wichtigeres auf der Welt als sie beide.
Sie griff nach der Fernbedienung. Er schlug ihre Hand weg. Maulend schmiegte sie sich an ihn wie ein beleidigtes Hündchen.
»Sei still«, zischte er und richtete sich auf, um jedes Wort der Meldung zu verstehen.
Der Nachrichtensprecher sagte irgendwas von Alfred Herrhausen, dem Manager der Deutschen Bank, der nach Mexiko gereist war. Dort erklärte ihm der mexikanische Präsident, dass sein Land an den Krediten der Weltbank, den Währungsfonds und der US-Regierung zu zerbrechen drohte. Herrhausen sprach von Schuldenerlass.
Rosa hörte nicht weiter
Weitere Kostenlose Bücher